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Trade-off: die Kosten-Nutzen-Bilanz

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Aus evolutionärer Sicht kann kein »Merkmal« und keine Eigenschaft jemals perfekt sein. Tatsächlich stellen alle Merkmale eine gewisse Kompromisslösung dar. So sollen unsere Knochen zwar so fest und stabil sein, dass sie nicht bei jeder kleinsten Belastung brechen, aber gleichzeitig nicht so schwer, dass sie unsere Bewegung einschränken und unsere Fortbewegung extrem energieaufwendig machen.

Magensäure verhindert auf der einen Seite Infektionen durch Abtöten der mit der Nahrung aufgenommenen Keime, auf der anderen Seite entstehen potenzielle »Kosten«, konkret ein potenzielles Risiko, an Magengeschwüren zu erkranken. Prinzipiell ist die Erzeugung eines derart niedrigen pH-Wertes, wie er in unserem Magen vorherrscht, und der gleichzeitigen Produktion von neutralisierendem Magenschleim, um eine Selbstverdauung der Magenschleimhaut zu verhindern, aus energetischer Sicht eine ziemlich aufwendige Angelegenheit.

Immer dann, wenn wir in unserem Köper eine derart »kostspielige« und gleichzeitig risikobehaftete Einrichtung vorfinden, sollten wir uns aus evolutionsmedizinischer Sicht einen leichtfertigen Eingriff in ein derartiges System gut überlegen. Denn »In der Biologie ergibt nichts Sinn, es sei denn, es wird im Licht der Evolution gesehen«, lautet ein wichtiger Grundsatz, der von dem Biologen Theodosius Dobzhansky geprägt wurde. »Leistet« sich unser Körper ein derartig aufwendiges, aber gleichzeitig risikobehaftetes System, hat das aus evolutionärer wie physiologischer Betrachtung mit ziemlicher Sicherheit einen guten Grund.

In diesem Zusammenhang ist die verbreitete, vor allem auf geschicktes pharmazeutisches Marketing zurückzuführende medizinische Unsitte, sogenannte Protonenpumpenhemmer (wie z. B. Omeprazol oder Pantoprazol) ohne gerechtfertigte Indikation mit der sprichwörtlichen Gießkanne (sie zählen seit Jahren zu den meistverschriebenen Medikamenten) zu verabreichen, ein Fehler, der langfristig zu erheblichen gesundheitlichen Nachteilen führen kann. Durch die Erhöhung des pH-Wertes im Magen kann nicht nur die Resorption einiger Medikamente, sondern auch die Aufnahme von Calcium (erhöhtes Osteoporose-Risiko!), Eisen, Magnesium und Vitaminen reduziert sein. Die Minderung der Säurebarriere des Magens führt auch zu einem erhöhten Risiko schwerer Magen-Darm-Infektionen, vor allem durch den Problemkeim Clostridioides difficile. Durch eine verminderte säurebedingte Denaturierung von Nahrungsmittelallergenen und Veränderungen der Bakterienzusammensetzung in unserem Darmtrakt erhöhen diese verharmlosend als »Magenschutz« bezeichneten Medikamente auch das Risiko für allergische Reaktionen um das Zwei- bis Dreifache, bei über 60-Jährigen sogar um das Fünffache!9

Unser Immunsystem überwacht eine große Reihe von körperfremden Antigenen und schützt uns dadurch vor Infektionen durch Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger. Gleichzeitig ist die Reaktionsfreudigkeit unseres Immunsystems auch die Ursache zahlreicher Krankheiten, von Autoimmunerkrankungen bis hin zu einem septischen Multiorganversagen. Es verlangt einen großen Balanceakt unseres Immunsystems, um zwischen tatenlosem Zusehen (mit der möglichen Folge einer Infektion) und einer Überreaktion, unter Umständen sogar gegen den eigenen Körper, den richtigen Mittelweg zu finden. Hinzu kommt, dass unser Immunsystem auch eine ganze Menge, uns wohlwollend gegenüberstehende, Darmbakterien tolerieren soll. Von wichtigen Einflussgrößen für ein funktionierendes Immunsystem, das den »richtigen Mittelweg« findet, wird später noch die Rede sein.

Ähnlich wie unser Immunsystem wird auch unsere Blutgerinnung durch ein komplexes Netzwerk über mehrere verstärkend und hemmend wirkende Kaskaden gesteuert. Die niederschwellige Auslösbarkeit der Blutgerinnungskaskade sowie deren Schnelligkeit bei der Erzeugung eines Blutgerinnsels war in unserer Vergangenheit (und ist heute noch) der Garant für das Überleben nach stark blutenden Verletzungen. Der Nachteil dieses wunderbaren Systems im Sinne eines Trade-offs liegt in ebendieser niederschwelligen Auslösbarkeit der Blutgerinnung, was auch die Ursache für häufig auftretende gefährliche Thrombosen und unter Umständen tödlich verlaufende Thromboembolien (v. a. Lungenembolien) darstellt. Eine recht niederschwellige Auslösbarkeit der Blutgerinnung hat sich im Verlauf unserer evolutionären Vergangenheit offenbar als durchaus hilfreich, weil lebenserhaltend erwiesen.

Die zentrale Rolle von Trade-offs in jedem Aspekt unseres Lebens macht derartige Kompromisslösungen der Evolution zum wichtigsten Prinzip bei der evolutionären Betrachtung von Gesundheits- und Krankheitszuständen. Selbst viele unserer essenziellen und recht einfachen Abwehr- und Schutzmechanismen folgen einer Kompromisslösung zwischen Kosten und Nutzen.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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