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Sauerstoff und freie Radikale

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Nehmen wir das Beispiel der sogenannten freien Radikale. Das sind verschiedene Formen von reaktionsfreudigen Sauerstoffmolekülen, die mit den biochemischen Komponenten unserer Zellen eine zum Teil heftige und unerwünschte Reaktion eingehen. Freie Radikale und der mit ihnen verbundene »oxidative Stress« sind verantwortlich für akute wie chronische Entzündungsvorgänge, viele Krankheitsprozesse und den Prozess des Alterns ganz allgemein. Freie Radikale fallen aber auch unter normalen Bedingungen in den Mitochondrien (das sind die Zellkraftwerke) unserer Zellen im Rahmen der Energieproduktion permanent an und werden von unseren körpereigenen antioxidativen Molekülen abgefangen und weitgehend unschädlich gemacht. Aller Wahrscheinlichkeit nach geht die evolutionäre Entstehung von antioxidativen Abwehrsystemen auf einen Zeitpunkt vor über zwei Milliarden Jahren zurück, als die Vorläufer der heutigen Cyanobakterien durch Photosynthese für eine recht hohe, für viele damalige Lebewesen toxische Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre sorgten. Dieses sehr lange zurückliegende Phänomen wird in der Wissenschaft als die »Große Sauerstoffkatastrophe« bezeichnet und machte die Entwicklung antioxidativer zellulärer Systeme zu einer Lebensnotwendigkeit für Organismen. So schützen sich unsere Körperzellen vor übermäßiger Oxidation und der damit einhergehenden Schädigung von Proteinen, Lipiden und DNA durch endogene Enzyme wie Superoxiddismutase, Katalase oder Glutathion-Peroxidase. Vor allem auf Ebene unserer Erbsubstanz (DNA) können freie Radikale zu Strangbrüchen und Basenfehlpaarungen führen. Ein übermäßiger oxidativer Stress findet sich zudem bei fast allen chronischen Krankheiten, die mit einer chronischen Entzündung einhergehen, von Arteriosklerose über Diabetes, Alzheimer-Erkrankung, Parkinson-Erkrankung bis hin zu chronischer Polyarthritis.

Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass freie Radikale auch eine bedeutende positive Rolle in unserem Zellstoffwechsel aufweisen. Zum einen produzieren spezielle weiße Blutkörperchen diese aggressiven freien Radikale, um mit ihrer Hilfe eingedrungene Bakterien abzutöten, andererseits dürften sie in gewissen Konzentrationen auch notwendig für regulative Vorgänge in unserem Körper sein. Den meisten von uns ist der aggressive Prozess der Oxidation von rostenden Autoteilen (langsam) bis hin zu heftigen Explosionen (schnell) bekannt.

Zu den gesundheitsprotektiven Antioxidantien zählen auch verschiedene über Pflanzennahrung aufgenommene Verbindungen wie Carotinoide, Vitamin C, Vitamin E und Polyphenole wie das Resveratrol. Was läge also näher, als sich diese Substanzen in Form von konzentrierten Nahrungsergänzungsmitteln regelmäßig zuzuführen?

Der Frage, ob durch die Einnahme von Antioxidantien wie Vitamin A und E auch chronische Krankheiten oder sogar Krebs verhindert werden könnten, widmeten sich bereits einige groß angelegte Studien. Sie kamen zu einem verblüffenden Ergebnis: Die Einnahme von Vitamin-A- oder Vitamin-E-Kapseln scheint nicht nur keinerlei verhindernden Effekt auf die Entstehung von Krankheiten wie Krebs zu haben, sondern ganz im Gegenteil. Es zeigte sich, dass die Einnahme von Antioxidantien in Kapselform das Krebsrisiko (insbesondere bei Rauchern) und die Mortalität aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse sogar erhöhen dürfte.9

Eine Studie, die die Wirkung von alpha-Tocopherol-(Vit. E)- und beta-Carotin (Provitamin A)-Supplementierung auf die Inzidenz von Schlaganfällen bei Rauchern untersuchte, führte zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich das Risiko, an einer Hirnblutung zu sterben, um sage und schreibe 181 Prozent erhöhte, also beinahe verdreifachte!10

Eine andere Studie untersuchte die Einnahme von antioxidativen Supplementen bei Sportlern. Bei intensiven und belastenden Sportarten kommt es in den Zellen zu einer vermehrten Bildung freier Radikale und man wollte herausfinden, ob sich durch die Gabe von Antioxidantien der Trainingseffekt steuern, sprich verbessern ließe. Auch hier war das Ergebnis wieder einigermaßen unerwartet und widersprach der Grundannahme: Jene Probanden, die Antioxidantien einnahmen, hatten einen schlechteren Trainingseffekt als diejenigen der Kontrollgruppe ohne zusätzliche Antioxidantien.11

Die Ursache hierfür, so vermuten die Forscher, dürfte in der Tatsache begründet sein, dass die Bildung einer gewissen Menge freier Radikale sogar notwendig ist, um entsprechende Trainingseffekte im Körper auszulösen. Das dahinterstehende Konzept nennt sich Mitohormesis und besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass ein gewisses Maß an schädigenden Substanzen (wie Sauerstoffradikale) in den Körperzellen notwendig ist, um positive, adaptive Effekte auslösen zu können. Sportliche Bewegung und Kalorienreduktion wirken also offenbar als leichte, aber im Endeffekt gesundheitsförderliche Stressfaktoren, die eine geringe Produktion von reaktiven Sauerstoffverbindungen begünstigen. Bei einer Ernährung mit antioxidantienreichen Lebensmitteln (v.a. Gemüse und Nüsse) entstehen dabei keinerlei Nachteile.

Während also mittlerweile klar ist, dass große Mengen reaktiver Sauerstoffverbindungen schwere Zellschäden verursachen und das Altern fördern, können niedrige Werte hingegen die systemischen Schutzmechanismen verbessern, indem sie eine adaptive Reaktion auslösen. Die Realität scheint also wieder komplexer zu sein, als erwartet und »gut« oder »schlecht« ist auch hier die falsche Betrachtungsweise. Die Einnahme von Antioxidantien, wie beispielsweise Vitamin A und E, als teure Nahrungsergänzungsmittel ist also im besten Fall sinnlos und produziert einen teuren Urin, da sie der Körper nicht aufnimmt, oder ist im schlechtesten Fall sogar gesundheitsschädlich. Werden antioxidative Moleküle hingegen in natürlicher Form kontinuierlich mit der Nahrung, vor allem durch buntes Gemüse, Beeren, Obst und Nüsse, aufgenommen, dürften sie, nach allem, was wir bisher wissen, einen gesundheitsprotektiven, prophylaktischen Effekt aufweisen.12

Noch deutlicher werden diese auf den ersten Blick gegensätzlichen oder gar widersprüchlichen Funktionsweisen komplexer Systeme (wie z.B. bei unserem Organismus), wenn wir später einen kurzen Streifzug durch die interessante Disziplin der evolutionären Medizin unternehmen.

Vielem von dem, was wir im beständigen bunten Medienstrom vorgesetzt bekommen, sollten wir also durchaus mit einem gewissen Maß an begründeter Skepsis begegnen. Manche geäußerten Ansichten und Erklärungsmodelle scheinen auf den ersten Blick zwar einleuchtend, beruhen aber bei genauerem Hinsehen auf stark vereinfachten, wenig nachvollziehbaren Erklärungen oder haben schlicht gar keine Substanz.

Je mehr Basis- und Hintergrundwissen wir uns zu einem Thema aneignen, desto einfacher gelingt eine differenzierte und unaufgeregte Zuordnung der uns täglich vorgesetzten Inhalte. Dabei ist es aber auch gerechtfertigt, dass wir im Laufe der Zeit unsere Meinungen zu gewissen Themen ändern oder schlicht zur Kenntnis nehmen müssen, dass wir die Antwort auf viele Phänomene und Fragen derzeit (noch) nicht kennen.

Es gibt allerdings einen kleinen, aber emsigen Personenkreis, der sich gewissermaßen als konservativer »Hüter der naturwissenschaftlichen Wahrheit« sieht, der technischem Fortschritt bedingungslos huldigt und sich seine professionell zur Schau getragene Skepsis zu komplexen lebenswissenschaftlichen Fragen auf seine Fahnen geheftet hat. Reichen Sachargumente nicht aus oder hat man sein eigenes Verständnislimit erreicht, wird mit zum Teil äußerst fragwürdigen, an Sekten erinnernden, aggressiven Methoden gearbeitet. Sie richten dabei nicht selten erheblichen und zum Teil auch irreparablen Schaden an. Sowohl auf persönlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene. Auffällig häufig entstammen diese Personen den Lebenswissenschaften fernen Bereichen.

Woher kommen ihre Sichtweisen und vereinfachten Annahmen zu komplexen Prozessen des Lebens und warum leugnen sie zum Teil jegliche gegenteilige empirische Erfahrung? Eine mögliche Antwort darauf könnten wir in der Entstehung unseres naturwissenschaftlichen Weltbildes als Folge der Aufklärung im 18. Jahrhundert finden.

Das unsichtbare Netz des Lebens

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