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Welche wissenschaftlichen Perspektiven auf die Demokratie gibt es?
ОглавлениеDer Politikwissenschaftler Hubertus BuchsteinBuchstein, Hubertus (*1959) unterscheidet vier Typen moderner Demokratietheorien: Historische, empirische, formale und normative. Historische Demokratietheorien zeichnen entwicklungsgeschichtliche Linien nach, um markante Zäsuren identifizieren und Entwicklungen innerhalb der demokratischen Theorie und Praxis nachzeichnen zu können. Dafür befassen sie sich hauptsächlich mit Texten wichtiger Autor*innen aus der politischen Ideengeschichte der Demokratie. Hier lässt sich zum Beispiel rekonstruieren, inwiefern zwischen der antiken und der modernen Demokratie ein fundamentaler Bedeutungswandel stattgefunden oder sich das Verständnis von → FreiheitFreiheit im Laufe der Jahrtausende verändert hat. Die Teildisziplin der Politischen Ideengeschichte wird dabei nach dem Politikwissenschaftler Marcus LlanqueLlanque, Marcus (*1964) in den Funktionen des Archivs und des Arsenals gefasst. Als Archiv bewahrt sie die Traditionen des demokratischen Denkens auf, kategorisiert und sortiert sie. Als Arsenal hält sie die Argumente, Theorien, Modelle und Kritiken für die politischen Debatten und Auseinandersetzungen bereit, die von Zeit zu Zeit die Frage der Demokratie neu stellen.
Empirische Theorien verdichten empirische Befunde zu allgemeingültigen theoretischen Aussagen. Sie beschreiben Systeme, die sich Demokratie nennen und versuchen, Kausalzusammenhänge in diesen herauszuarbeiten. Dafür gehen sie unter Rückgriff auf Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung induktivinduktiv, also vom Konkreten zum Allgemeinen vor. Die empirischen Demokratietheorien interessiert meist die Form der Demokratie, die am besten dazu geeignet ist, rationale Ergebnisse hervorzubringen. Sie klassifizieren verschiedene Typen von DemokratienTypen von Demokratien, benennen deren Funktionsvoraussetzungen, messen deren Leistungsfähigkeit und analysieren die Gefährdungen der Demokratie. Die empirische Forschung unterscheidet klassisch direkte und repräsentative, föderalistische und einheitsstaatliche, parlamentarische und präsidentielle Regierungssysteme sowie Konkurrenz- und Konkordanz- von Mehrheits- und Verhandlungsdemokratien.
Formale Demokratietheorien erstellen Modelle der Demokratie aus bestimmten wenigen Vorannahmen über Akteur*innen und Systemzusammenhänge und gehen dabei deduktiv, also vom Allgemeinen zum Konkreten vor. Anhand der Modelle können spezifische politische Ordnungen auf ihren Grad an Demokratie hin quantitativ und qualitativ gemessen, bewertet und verglichen werden, ohne dass dabei normative Ansprüche erhoben werden. Diese Theorien unterstellen entweder den Akteur*innen, rational zu handeln (vor allem Ansätze der Rational-Choice-Theorien) und erklären dann das Verhalten von Parteien, Verbänden oder Institutionen aus dieser Grundannahme heraus. Oder die Theorien gehen von der Makroebene des Systems aus, das nach rationalen Maßstäben funktioniert, ohne dass die Akteur*innen hier eine besondere Rolle spielen (vor allem die Systemtheorie nach Niklas LuhmannLuhmann, Niklas (1927–1998)). Trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen beanspruchen beide, Rational-Choice wie Systemtheorie, die Leistungsdefizite sowie irrationale Elemente und die Selbstgefährdungen von Demokratien herausstellen zu können.
Normative Demokratietheorien schließlich konstruieren, begründen und bewerten Aussagen darüber, wie die Demokratie sein sollte und bieten somit die Möglichkeit der kritischen Auseinandersetzung mit der Praxis demokratischer Ordnungen und Gesellschaften. Hier spielen Fragen nach den Voraussetzungen, Bedingungen, Möglichkeiten und Hindernissen einer guten, gerechten, gelungenen und eben im vollumfänglichen Sinne demokratischen politischen Ordnung die maßgebliche Rolle. Durch eine normative Bewertung von demokratischer LegitimationLegitimation und Performanz werden immer auch mögliche Alternativen einer im Vergleich zur Realität „besseren“, weil emanzipierteren, freieren, gerechteren oder demokratischeren Gesellschaft sichtbar gemacht. Als Maßstab normativer Bewertungen gelten heute geteilte moralische Intuitionen, anthropologische Grundannahmen über das Wesen des Menschen oder die in der Kommunikation sich enthüllende Vernunft. Gerade Demokratien zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie die normativen Ansprüche niemals vollständig erfüllen können und daher die normative KritikKritik an der Demokratie in ihr auf Dauer gestellt, also fast schon ein Prinzip ist. Gegenwärtig gibt es eine große Anzahl an normativen Demokratietheorien, neben den klassisch liberalen, konservativen, republikanischen oder sozialistischen Theorien etwa die feministische, deliberative, kosmopolitische oder radikale Demokratietheorie. Normative Demokratietheorien stellen dabei den Boden bereit, auf dem empirische und formale, ja selbst historische Untersuchungen und Forschungen notwendig ansetzen müssen. Gleichzeitig bedürfen normative Theorien stets auch der Rückbindung an empirische Forschung, um nicht zum Selbstzweck zu werden und den berechtigten Anspruch auf eine kritische Reflektion und gegebenenfalls Veränderung gegenwärtiger demokratischer Praktiken anleiten zu können.
Literaturtipp | Mehr zu den Typen von Demokratietheorien findet sich in folgendem Buch: Buchstein, H.: Typen moderner Demokratietheorien. Überblick und Sortierungsvorschlag, VS Verlag 2016.