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Aktuelles Beispiel – Corona und die Frage der Demokratie

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Das Jahr 2020 stand ganz im Zeichen der globalen Covid-19-Pandemie. In nur wenigen Wochen breitete sich das neuartige SARS-CoV-2-Virus vom chinesischen Wuhan über die Welt aus und beschäftigte als so genannte Corona-Krise die Staatengemeinschaft in einem nicht gekannten Ausmaß. International führende wissenschaftliche Expert*innen bemühten sich um ein Verständnis der Ursprünge und Auswirkungen des Virus und arbeiteten fieberhaft an der Entwicklung eines Impfstoffes. Die nationalen Regierungen griffen auf die vorhandenen Expertisen zurück, um auf dieser Basis in den eingerichteten Krisenstäben die politischen Konsequenzen zu ziehen. Wie für Demokratien üblich, wurden zumindest dort die von der Politik zum Schutz der Bevölkerung diskutierten und getroffenen Maßnahmen engmaschig medial aufbereitet und von einer kritischen ÖffentlichkeitÖffentlichkeit nahezu in Echtzeit begleitet. Nicht selten wurden in den sich entspinnenden Debatten historische Vergleiche zur mittelalterlichen Pest, den Pockenepidemien der frühen Neuzeit und zur Spanischen Grippe Anfang des 20. Jahrhunderts bemüht. Dies unterstrich, jenseits der Frage nach der historisch-empirischen oder medizinischen Korrektheit dieser Vergleiche, das Bewusstsein um die Gefahr und Ernsthaftigkeit der Pandemie eindrucksvoll.

Die Diskussionen um die Angemessenheit der zum Schutz der Bevölkerungen getroffenen Vorkehrungen waren damit von Anfang an nie rein medizinischer Natur gewesen, auch wenn manche Kritiker*innen sich in die Behauptung verstiegen, die Politik hätte das Heft des Handelns leichtfertig an Virolog*innen abgegeben. Vielmehr waren es stets hoch politische Fragen, die mit jeweils unterschiedlichen Argumentationen und Priorisierungen weltweit unterschiedlich gestellt und beantwortet worden sind und somit entsprechend auch die verschiedensten Reaktionen und Auswirkungen in den jeweiligen Gesellschaften gezeitigt haben. Bei allem zu beklagenden Leid und trotz der unbestrittenen Tatsache, dass der Welt dieses Virus besser erspart geblieben wäre, ist es aus einer demokratietheoretischen Perspektive dennoch erhellend, sich die Debatten rund um die Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise etwas näher zu betrachten.

So war zunächst oft der Vergleich von demokratischen mit autoritären Regimen gezogen worden, der sich mit Blick auf deren vermeintlich bessere Eignung, effizient auf Krisen- und Ausnahmesituationen zu reagieren, anfangs zu einem teilweise zynischen Bodycount auswuchs. Nach und nach jedoch wurden, wie in Krisenzeiten üblich, die vergessenen oder vermeintlich längst beantworteten fundamentalen Fragen der Demokratie erneut an die Oberfläche der politischen Diskurse gespült und die demokratischen Öffentlichkeiten befassten sich fortan intensiv mit Debatten um das Verhältnis von Herrschenden zu Beherrschten, von Politik zu Gesellschaft und Wirtschaft sowie mit Fragen nach SouveränitätSouveränität, Macht und Ungleichheit. Spätestens mit dem so genannten Lockdown und den damit verbundenen, zum Teil drastischen Einschränkungen in den Bereichen der Arbeit, des sozialen Miteinanders und der Freizeitgestaltung bis hinein in die intime Privatsphäre der einzelnen Haushalte, erreichte die öffentliche Debatte schließlich einen lange nicht gesehenen Politisierungsgrad. Begrüßten die einen die Maßnahmen als legitim, weil angemessen und notwendig, um Sicherheit und Leben der Bürger*innen zu garantieren, kritisierten andere diese als illegitimen Eingriff in die individuellen Freiheiten und als antidemokratische Machtübernahme außer Kontrolle geratener Regierungen. In den sozialen Netzwerken war eine tiefe Spaltung der ÖffentlichkeitÖffentlichkeit in zwei unversöhnliche Lager zu beobachten: Die Vertreter*innen einer politischen Vernunft auf der einen und die sich als Verteidiger*innen der Freiheitsrechte gerierenden Corona-Maßnahmen-Kritiker*innen, Corona-Leugner*innen und Impfgegner*innen auf der anderen Seite. Mit der Berufung auf zentrale Leitmotive der europäischen Aufklärung und Geschichte der modernen Demokratie wurde dieser StreitStreit bald auch auf die Straßen und Plätze der Republik getragen, wo den Bürger*innen unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und hohen Auflagen die Ausübung ihres Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit ermöglicht wurde, das diese dafür nutzten, vor laufenden Kameras und mitschreibenden Journalist*innen den vermeintlichen Verlust ihrer Grundrechte und Freiheiten zu beklagen, die sie unter der angeblichen Diktatur pseudodemokratischer Regierungen widerspruchslos hinzunehmen hätten. Diese Absurdität gipfelte in der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes, Sitz der bundesrepublikanischen Volksversammlung und LegislativeLegislative, im Spätsommer 2020, als sich die gerade einmal drei zu dessen Schutz abgestellten Polizisten plötzlich Reichsflaggen schwenkenden Demonstrierenden gegenüberstehen sahen. Diese Bilder riefen historische Erinnerungen an das Ende der Weimarer Republik und die Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 ins kollektive Gedächtnis und unterstrichen damit die Fragilität der Demokratie auf ebenso eindrucksvolle wie beunruhigende Art und Weise.

Längst ging es da schon nicht mehr allein um das Virus oder dessen Auswirkungen, sondern um ganz Grundsätzliches, nämlich die Mitspracherechte der Bürger*innen bezüglich der möglichen (und wünschenswerten) (Weiter-)Entwicklungen oder auch Abschaffung der Demokratie angesichts ihrer vermeintlichen bis realen Krisenphänomene. In den Medien, sozialen Netzwerken und an den Stammtischen diskutierte man die Berechtigung der Regierung, sich auf das → VolkVolk als SouveränSouverän aller Entscheidungen zu berufen sowie die Frage, wer dieses Volk überhaupt sei. Rechtspopulist*innenRechtspopulist*innen versuchten, durch rassistische und rechtsextreme Diffamierungen die angeblichen Schuldigen an der Pandemie zu identifizieren, um so den freien Fall in Richtung Bedeutungslosigkeit abzufangen, in welchem sie sich seit Ausbruch der Krise Umfragen sowie der öffentlichen Wahrnehmung nach befanden. Progressive Kräfte hingegen witterten Morgenluft und sahen endlich die Chance gekommen, die Hegemonie des KapitalismusKapitalismus vom Sockel zu stoßen. Schließlich war plötzlich möglich, was stets als verbrecherisches Instrumentarium sozialistischer Umsturzpläne gegeißelt wurde: Staatliche Eingriffe in den privatwirtschaftlichen Sektor. Unternehmen wurden von der Politik auf ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise verpflichtet, die Aussetzung von Mietzahlungen wurde in Aussicht gestellt und eine grundlegende Reform des Wirtschaftslebens schien auf einmal viel realistischer als noch ein paar Monate zuvor. Und nicht nur das, auch die positiven ökologischen Effekte, die eine demokratische Planung und mitunter Beschränkung der vermeintlichen wirtschaftlichen Imperative zeitigen kann, waren direkt wahrnehmbar, was die millionenfach geteilten Satellitenbilder der sauberen Kanäle in Venedig zeigten. Weltweit solidarisierten sich zudem Menschen mit den Schwächsten und Verletzlichsten und waren bereit, Einschränkungen zugunsten ihrer Mitmenschen und auf Kosten ihrer Privilegien und Freiheiten zu akzeptieren. Wenn der politische Wille da ist, so der Eindruck, den man bekommen konnte, ist alles möglich und eine bessere Gesellschaft nicht mehr nur eine nie zu verwirklichende Utopie.

Gleichzeitig wurde das utopische Potenzial der Krise seitens der etablierten konservativen und reaktionären Kräfte in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft bei weitem nicht ausgeschöpft. Eher hielt man sich hier an die Verteidigung oder Wiederherstellung des status quo. Dadurch wurde aber auch die Fähigkeit des NationalstaatsNationalstaat, überhaupt auf globale Herausforderungen reagieren zu können diskutiert, während man gleichzeitig in Europa ein erschreckendes Schweigen der Institutionen der Europäischen Union vernehmen konnte. Dass jeder Abgesang auf die Gestaltungsmacht und Souveränität des Staates verfrüht wäre, zeigten aber spätestens die enormen Summen, die quasi über Nacht zur Rettung der als systemrelevant geltenden Branchen mobilisiert wurden. Geld, das andernorts immer dort fehlt, wo es für die Herstellung gerechter Lebensverhältnisse und nicht unmittelbar ökonomisch messbare Innovationen gebraucht würde. Die Regierungschef*innen und zuständigen Minister*innen der Nationalstaaten wurden bei ihren regelmäßigen Rechtfertigungen gegenüber ihren Bevölkerungen dabei nicht müde zu betonen, dass man neben der Meinung von Wirtschafts-Expert*innenExpert*innen stets auch die Einschätzung von Jurist*innen und den zuständigen Gerichten einhole und sich streng an die Prinzipien des demokratischen RechtsstaatsRechtsstaat und der VerfassungVerfassung halte, die es vor zu großem Wandel zu bewahren gelte. Dennoch entzündeten sich hoch aufgeladene Debatten um die Vorrangstellung der Wirtschaft gegenüber Gesellschaft, Politik und dem Wohl der Arbeitnehmer*innen, die zumindest kurzfristig eine enorme Schubkraft entwickeln und dabei aus der schwelenden Unzufriedenheit großer Bevölkerungsteile mit dem Einfluss von wirtschaftlichen Lobbygruppen schöpfen konnten.

Neben dem demokratischen Prinzip der → FreiheitFreiheit und seinen Einschränkungen ging es dabei auch viel um die Frage der → GleichheitGleichheit. Die Vorstellung, dass das Virus als der große Gleichmacher alle Menschen gleichermaßen betreffe, also für alle gleich tödlich und damit auf eine zynische Art demokratisch sei, wurde recht bald als Ideologie widerlegt. Es zeigte sich, dass schon die Gefahr, sich überhaupt anzustecken, ebenso ungleich verteilt war, wie soziale, politische, ökonomische und kulturelle Privilegien es auch sonst sind. In den USA, der ältesten Demokratie der modernen Welt wohlgemerkt, belegten Studien, dass die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, dreimal so hoch für Menschen ist, die als schwarz konstruiert werden, im Vergleich zu jenen, die als weiß gelten. Selbstredend hängt das mit den faktischen sozialen, politischen und ökonomischen Ungleichheiten zusammen, die besonders in kapitalistisch organisierten Gesellschaften immer schon bestimmte Bevölkerungsgruppen in prekäre und hoch vulnerable Lebenszusammenhänge zwängen und in allgemeinen Krisenzeiten verheerende Ausmaße annehmen. Ob man sich ansteckte und auch wie die Krankheit dann im Ansteckungsfall verlief, hing also zu einem großen Teil davon ab, ob und inwiefern man Zugang zum Gesundheitssystem und staatlichen Leistungen hatte beziehungsweise ob man es sich schlicht leisten konnte, ja man überhaupt die Möglichkeit hatte, sich von den Mitmenschen zu distanzieren. Auch lasteten die wirtschaftlichen Folgen nicht auf allen gleichermaßen. Nicht alle konnten schließlich vom Ersparten leben und Einkommenseinbußen überbrücken, was nicht nur für die USA, sondern auch für die europäischen Demokratien mit starker sozialstaatlicher Tradition galt. Zwar griff zum Beispiel in Deutschland das so genannte Kurzarbeitergeld und recht schnell wurden wie gesagt auch finanzielle Mittel zur Rettung der als systemrelevant geltenden Branchen der Industrie und des Finanzwesens bereitgestellt. Für die Ärmsten der Armen jedoch wurde keine einzige zusätzliche Absicherung in den kurzfristig aufgesetzten Konjunkturmaßnahmen eingeplant und auch die anfangs noch als Held*innen besungenen und viel beklatschten Pflegekräfte im Gesundheitsbereich mussten sich am Ende damit zufriedengeben, dass es bei der rein symbolischen Entlohnung für ihren aufopfernden und gefährlichen Einsatz bleiben würde. So waren auch in den demokratischen Gesellschaften nicht nur die vermeintlich Alten und Vorerkrankten einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sondern alle von RassismusRassismus, Armut und Prekarisierung betroffenen Menschengruppen, die Arbeitslosen, Migrant*innen, Pfleger*innen und Kassierer*innen und all diejenigen, die in Sammelunterkünften für Geflüchtete, Saisonarbeiter*innen auf den Spargelfeldern und in den Schlachthöfen sowie in den Lagern dies- und jenseits der europäischen Grenzen leben müssen, wo die Menschen dem Virus fast schutzlos ausgeliefert sind.

Erst überschritt Corona also die Grenzen von Kontinenten, dann von Nationalstaaten und schließlich von sozialen Schichten und Klassen, und es stellte sich heraus, dass die Gefahr der Ansteckung und damit auch der Sterblichkeit eine soziale und damit eine zentrale Frage der Demokratie war. Immerhin war die Demokratie einst erfolgreich mit dem Versprechen der → FreiheitFreiheit, → GleichheitGleichheit und → SolidaritätSolidarität für alle angetreten und bezieht bis heute daraus ihre große Attraktivität. Wie sonst wären die leidenschaftlichen Diskussionen der letzten Monate zu erklären, wenn nicht mit zumindest Restbeständen einer affektiven Bindung eines Großteils der Menschen an genau jene Prinzipien?

Insofern die Infizierung aber vor allem unter Menschengruppen stattfand, die aus sozialer und wirtschaftlicher Not heraus verletzlicher waren als andere, liegt etwas sehr im Argen mit der Demokratie. Leicht konnte man den Eindruck bekommen, dass jenseits der formalen Gleichheit aller Bürger*innen und Menschen per Gesetz und VerfassungVerfassung de facto vor allem die zahlungskräftigen und arbeitenden Teile der Bevölkerung als vollwertige Bürger*innen akzeptiert werden, was eher an feudale, denn an demokratische Verhältnisse erinnert. Dies wurde besonders deutlich, wo in Deutschland versucht wurde, Arbeiter*innen aus Bulgarien und Rumänien, die sich in den hiesigen Fleischfabriken mit dem Virus infiziert haben, explizit als Nicht-Teil dieser Gesellschaft, als nicht-zugehörig, weil „von außen kommend“ auszugrenzen, anstatt sich mit ihnen zu solidarisieren und staatlicherseits der Pflicht nachzukommen, sie zu beschützen. Sind also Menschen, Familien, die unter Einsatz ihrer körperlichen Gesundheit auf deutschem Boden leben und arbeiten, und das zu oft beschämend erbärmlichen Löhnen, kein Teil dieser Gesellschaft? Gelten für sie andere Regeln, haben sie weniger Rechte? Und was bedeutet es dann eigentlich überhaupt, Bürger*inBürger*innen einer Demokratie zu sein?

Die Corona-Krise ließ also wie unter einer Lupe verstärkt hervortreten, was die Entwicklung der modernen Demokratie immer schon begleitet und sie maßgeblich mit vorangetrieben hat: Den öffentlichen Streit um die Art und Weise, menschliches Zusammenleben gemäß der Ideale der Gleichheit, Freiheit und Solidarität zu organisieren. Haben wir es mit der Demokratie dann am Ende aber angesichts all der offenkundigen wie beklagten Missstände vielleicht doch nur mit einem, wenn auch mächtigen, Mythos zu tun, wie es der Soziologe Geoffroy de Lagasneriede Lagasnerie, Geoffroy zuletzt behauptete? Müssen wir ihm darin zustimmen, dass wir uns besser eingestehen sollten, dass wir uns selbst anlügen, wann immer wir uns über die Gültigkeit der demokratischen Prinzipien der VolkssouveränitätVolkssouveränität, der Freiheit und der Gleichheit verständigen? Sicher ist, dass die Demokratie nicht das Ende der Geschichte ist. Wie alles, was einen historischen Ursprung hat, kann sie aber zu Ende gehen. Und fest steht gleichzeitig auch, dass die Demokratie und ihre Prinzipien weder eindeutig auf den Begriff gebracht noch jemals vollumfänglich verwirklicht werden können. Ob man aber deswegen Lagasneries Aufforderung zum radikalen Bruch mit der Idee der Demokratie folgen muss, um endlich die Hindernisse für die Entwicklung wirklicher sozialer Alternativen und emanzipierter gesellschaftlicher Verhältnisse zu überwinden, muss fraglich bleiben. Denn wenn die Demokratie trotz aller Mängel nach wie vor etwas anzubieten hat, dann ist es die Möglichkeit, sie in Richtung der Ausweitung und Vertiefung ihrer eigenen Prinzipien, der FreiheitFreiheit, der GleichheitGleichheit und der SolidaritätSolidarität, in ihrem Namen und aus ihrem Inneren heraus zu überschreiten. Man muss die Möglichkeiten nur kennen. Und sie dann auch nutzen.

Linktipp | Der Frankfurter Arbeitskreis Politische Theorie bietet auf seinem YouTube-Kanal Videobeiträge zum Thema Kritische Theorien in der Pandemie. Anlässlich der Herausforderungen durch die Covid-19-Pandemie reflektieren Expert*innen in einzelnen Beiträgen deren Auswirkungen auf zum Beispiel die Demokratie, den (black) Feminismus, Wirtschaft, Familie, Sicherheit und Grenzen und vermitteln dabei kompetent und anschaulich Grundlagenwissen kritischer Sozialforschung.

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