Читать книгу Das Rütli - ein Denkmal für eine Nation? - Martin Schaub - Страница 40
2.3.1.1 Kurzinterviews
Оглавление2.3.1.1.1 Vorstudie: Instrument und Erhebung
Um das individuelle Wahrnehmen, Erleben und Deuten des Denkmals zu erforschen, lag eine mündliche Befragung von Besuchenden an Ort auf der Hand. Längere Interviews oder längere Fragebogen wären forschungspraktisch kaum realisierbar gewesen, da der Besuch in einem freizeitlichen Kontext erfolgte, der längere und intensivere Interventionen kaum zuliess. Aus diesem Grund fiel die Wahl auf Kurzinterviews, methodisch gestützt auf das «problemzentrierte Interview» nach Witzel.[270] Denn erstens fokussierten die Interviews auf konkrete Frage- oder Problemstellungen, zweitens sollte das Befragungssetting flexibel an die Umstände adaptierbar sein und drittens beinhaltete das Gespräch – wenn auch in geringerem Mass – eine prozessorientierte Vorgehensweise, indem Themen mehrfach und sich entwickelnd angesprochen werden sollten. Nach Witzel begleiten überdies drei weitere Instrumente die Kurzinterviews: der soziodemografische Kurzfragebogen, im Projekt direkt in die Befragung integriert, die digitale Aufzeichnung sowie das Postscriptum, also die Postkommunikationsbeschreibung.[271]
Der Leitfaden enthielt insgesamt 16 Fragen zu den folgenden Bereichen, welche Hettlings «Erlebnisraum»-Konzept mit den Operationalisierungsdimensionen abdecken:[272]
a)Besuch: Frequenz, Gründe und Erwartungen
b)Fünf Begriffe zum Rütli; Wissen zum Ort, Mythos
c)Wahrnehmung und Bewertung der Denkmalelemente
d)Denkmal auf dem Rütli: Ideen, das Rütli in Deutschland/Frankreich, das Rütli in der Schweiz
e)Bedeutung der Anlage
f)Verlauf resp. Ertrag eines/des Besuchs
g)Zwei Eindrücke nach dem Besuch
h)Soziodemografische Angaben
Bereich a) knüpfte an beim individuell getroffenen Entscheid, die Reise aufs Rütli zu unternehmen. Im zweiten Schritt (b) wurde mittels einer offenen Frage das Wissen zum Rütli thematisiert. Auf Präzisierung abzielende Nachfragen waren möglich, häufig in Fällen, in denen die Antwort entweder sehr spärlich ausfiel oder der Rütli-Rapport nicht angesprochen wurde. Diesen Wissensfragen voran ging die Aufforderung, in freiem und spontanem Assoziieren fünf Begriffe zum Rütli zu nennen. Ziel dieser Assoziationsaufforderung war es, kondensierte und vor allem auch quantifizierbare Daten zum Rütlibild zu erhalten. In den Bereichen c) bis e) sollten die Befragten drei wesentliche Elemente des Denkmals (Rütlihaus, Schwurplatz, Rütliwiese) beschreiben und bewerten. Auf die Besonderheit des Landschaftsdenkmals, das keinen klassischen Denkmalkörper aufweist, zielte die Frage ab, ob auf dem Rütli ein Denkmal wünschenswert wäre und, wenn ja, in welcher Form. Um die für die Schweiz typischen Gestaltungselemente anzusprechen, wurden – im Sinn der Kontrastierung – die Befragten gebeten, das hypothetische Bild des Rütlis in einem anderen Land zu zeichnen. Daran schlossen sich markante, polarisierende Aussagen an, zu denen die Interviewten Stellung beziehen sollten. Diese Aussagen gaben vor, Meinungen anderer Interviewten wiederzugeben, dies in der Absicht, den Befragten eine Stellungnahme zu erleichtern. Inhaltlich betrafen diese Aussagen die Gestaltung und die Bedeutung des Ortes. Der Abfrage soziodemografischer Daten ging die Bewertung eines resp. des Rütlibesuchs voraus.
Insgesamt sollten also auf der Basis der verbalisierten Daten die Wahrnehmung des Denkmals, das direkte persönliche Erleben sowie eine gewisse Reflexionsleistung fass- und objektivierbar gemacht werden. Allenfalls zu erwarten war, dass insbesondere die erwünschte Reflexionsleistung – im Rahmen eines spontan geführten Gesprächs – eher oberflächlich ausfallen könnte.
Im Sommer 2013 fand als Vorstudie eine erste Erhebung auf dem Rütli statt und war zweiphasig geplant: Die Besucherinnen und Besucher sollten bei der Ankunft an der Schiffstation in ein kurzes Gespräch verwickelt werden, in dem sie gebeten wurden, ihre Erwartungen, ihre Vorstellungen, ihre Motivation zum Besuch kundzutun. Ein zweites Gespräch nach dem Rundgang bezog sich auf die Eindrücke des Besuchs und thematisierte weitere Aspekte. Auf diese Weise entstanden zwölf Gespräche von sehr unterschiedlicher Dauer und ohne im Voraus festgelegtem Stichprobenplan. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert, kodiert und kategorial ausgewertet. Der Hauptzweck der Auswertung bestand darin, das Befragungsinstrument für die Hauptstudie so anzupassen, wie es im nächsten Kapitel beschrieben wird. In den Datenkorpus der Hauptuntersuchung flossen überdies fünf Interviews, die 2013 mit Schützen des 300-m- und des 50-m-Rütlischiessens geführt worden waren.[273] In diesen Gesprächen lag der Fokus auf schützenspezifischen Fragen, insbesondere in Bezug auf Besonderheiten des Rütlischiessens, den Grund für die Teilnahme sowie das Wissen über den Anlass.[274]
2.3.1.1.2 Hauptstudie: Instrument, Stichprobe und Erhebung
Die aus der Vorstudie gewonnenen Erkenntnisse dienten in erster Linie dazu, das Instrument in mehrfacher Hinsicht weiterzuentwickeln:
•Die in der Vorstudie erhaltenen Antworten erschienen oft kurz, eher allgemein gehalten und zu wenig substanziell. Dies dürfte nicht nur an dem spontanen, auf kurze Dauer ausgelegten Interview-Setting gelegen haben, sondern auch an den eher offenen und daher wenig präzisen Fragen. Aus diesem Grund wurde der Leitfaden überarbeitet unter Beibehaltung der inhaltlichen Grundstruktur, jedoch ausdifferenziert, wodurch sich die Interview-Dauer erhöhen und im Schnitt 20 Minuten erreichen sollte.[275] Erfahrungen aus der Vorstudie legten zudem nahe, dass die Interviews aufgrund der Fragenmenge, der beschränkt vorhandenen Interview-Zeit sowie des freizeitlichen Kontextes als halbstrukturierte Gespräche zu führen waren. Die konkrete Formulierung der Fragen sowie deren Reihenfolge sollten also variabel gehandhabt werden.
•Der im Leitfaden im Bereich d) vorgesehene Vergleich einer nationaltypischen Rütli-Gestaltung wurde auf Frankreich fokussiert. In der Vorstudie hatte sich Deutschland – im Gegensatz zu Frankreich – als problematisch erwiesen. Die Befragten wussten häufig nicht recht, in Bezug auf welche Phase der bewegten, von Verwerfungen und Brüchen geprägten deutschen Geschichte der Vergleich gezogen werden sollte.[276] Der Kontrast mit Frankreich hingegen erwies sich als funktional und produktiv: Die durchaus bewegte französische Geschichte zeichnet sich durch eine grössere politische und kulturelle Kontinuität aus, die überdies eine profilierte nationale Selbstdarstellung miteinschliesst.[277] Sowohl die Geschichte als auch die Selbstdarstellung unterscheiden sich zudem beträchtlich von der schweizerischen in politischer und kultureller Hinsicht.
•Für die Hauptuntersuchung galt es, einen qualitativen Stichprobenplan aufzustellen. Denn die Interview-Studie zielte nicht auf statistische Repräsentativität ab, sondern vielmehr auf relevante Heterogenität resp. Varianz des Untersuchungsfeldes. Überdies sollte sich die Sample-Grösse kontrollieren lassen. Der Stichprobenplan war dreidimensional:
–Lebensalter und Geschlecht: Studien weisen ein nach Lebensalter unterscheidbares Geschichtswissen, Interesse an Geschichte sowie Geschichtsbewusstsein nach. Männliche Jugendliche verfügen über ein höheres Wissen und Interesse als junge Frauen.[278] Erwachsenenspezifische Erkenntnisse zu diesen beiden Aspekten hingegen sind nicht greifbar.
–Ausbildungsniveau: Da die absolvierte Ausbildung relevant sein könnte, wurden drei Niveaus entsprechend dem höchsten Schulabschluss unterschieden.
–Nationalität, Sprache: Die anfängliche Idee, sich aus forschungspraktischen Gründen auf deutschsprachige Schweizerinnen und Schweizer zu konzentrieren, wurde fallen gelassen zugunsten eines heterogeneren Samples. Die Hauptuntersuchung berücksichtigte nämlich auch französisch- und englischsprachige Personen sowie solche, die nicht in der Schweiz aufgewachsen waren. Drei Gründe sprachen für diese Ausdehnung: Erstens war absehbar, aufgrund der Erfahrungen der Vorstudie, dass es sich nur um eine kleine Minderheit handeln würde. Zweitens liess sich so die qualitative Breite des Samples erweitern, und drittens schien es bei der Auswertung möglich, diese spezielle Gruppe, falls erforderlich, zu separieren.
Die Erfahrungen der Vorstudie führten zu einem örtlich veränderten und gleichwohl stabilen Interview-Setting der Hauptuntersuchung: Statt einer zweiphasigen Befragung vor und nach dem Besuch fand das Interview nunmehr stets als ein einziges, dafür aber längeres Gespräch statt, und zwar – mit wenigen Ausnahmen – auf der Rütliwiese, dem sowohl topografischen als auch szenografischen Höhepunkt des Denkmals. Zu diesem Verfahren hatten erstens ganz praktische Gründe geführt. Der Schiffsbetrieb an der Schiffstation beeinträchtigte akustisch die Aufnahmen und verunmöglichte so eine brauchbare Transkription. Aber auch aus einem zweiten Grund erwies sich die Schiffstation als ungeeignet für eine Datenerhebung. Personen, die an der Schiffstation Rütli ankamen, waren in diesem Moment der Ankunft eher gesprächsunwillig, da sie entweder einen geplanten Wandertag vor sich hatten oder aber zuerst das Gelände begehen wollten. Umgekehrt gelangten, drittens, die Besuchenden oft zu knapp an die Schiffstation, wodurch für ein komplettes Gespräch oft zu wenig Zeit verblieb. Viertens kehrten zahlreiche Personen gar nicht mehr zur Schiffstation zurück, sondern schlugen einen Wanderweg in Richtung Seelisberg ein, wodurch ein zweites Gespräch ebenfalls verunmöglicht wurde. Die Rütliwiese bot sich, fünftens, als Erhebungsort insofern an, als jene Personen, die das Rütli nur als Durchgangsstation und nicht als Teilziel betrachteten, nicht bis zur Rütliwiese hochwanderten, sondern das Gelände auf einem Wanderweg umgehend verliessen. Schliesslich hatten sich, sechstens, die Fragen nach Erwartungen und Vorstellungen vor dem Besuch als wenig ertragreich erwiesen.
Von Mai bis August 2014 fand die Hauptuntersuchung statt. Der Zeitpunkt der Gespräche wurde möglichst variabel gewählt, das heisst an verschiedenen Wochentagen (werktags und am Wochenende) und sowohl in der Ferien- als auch Nichtferienzeit. Die Teilnahmebereitschaft erwies sich als überraschend gut. Von den angegangenen Personen stimmten mindestens 75 Prozent einer Teilnahme zu, vom restlichen Viertel füllte ein Grossteil den Kurzfragebogen aus. Insgesamt entstanden dabei 62 Interviews, die zwischen 10 Minuten und 30 Minuten dauerten, im Schnitt ungefähr 20 Minuten. Ein Gespräch (B9) musste umstandsbedingt abgebrochen werden und konnte deshalb nur teilweise miteinbezogen werden. Die Besuchenden waren oft in Paarkonstellationen unterwegs, weshalb der Interviewer bemüht war, das Gespräch auf eine Person zu fokussieren. Das gelang in der Regel. In einigen Fällen jedoch ergab sich ein Doppelinterview, indem das Paar jeweils abwechselnd antwortete. Solche Gespräche galten bei der Auswertung als zwei Interviews. Dabei musste unberücksichtigt bleiben, welchen Einfluss die verdoppelte Gesprächssituation auf die individuellen Äusserungen gehabt haben könnte. Aufgrund des fortlaufend aktualisierten Stichprobenplans wurden im Verlauf der Erhebungsphase vermehrt Personen mittleren Alters sowie vor allem auch Frauen angesprochen. Die Erhebung wies am Schluss die in Darstellung 7 enthaltene Stichprobe auf, wie sie sich aus den Besuchendennummern zusammensetzt. Der Plan unterscheidet in der linken Spalte vier farblich markierte Altersgruppen, die jeweils nach Ausbildungsniveau differenziert sind, wobei (1) einen Abschluss der Sekundarstufe II (Berufslehre oder Matur) bedeutet, (2) einen Abschluss auf weiterführendem Niveau (speziell Fachhochschule, höhere Berufsabschlüsse) und (3) ein universitäres Studium. Steht die Besuchendennummer in Klammern, ist die geografische Zuordnung nicht eindeutig, sei es, weil es sich etwa um Auslandschweizerinnen oder -schweizer handelt oder um Deutsche, die seit Jahrzehnten in der Schweiz lebten, jedoch in Deutschland die gesamte Schul- und Ausbildungszeit verbracht hatten. Parallel zum Stichprobenplan entstand eine Erhebungsübersicht. Sie enthielt neben Datum, Alter und Herkunft der Interviewten auch das Postskriptum des Interviewers, das persönlich gehaltene Eindrücke des Gesprächs und damit die Entstehungssituation dokumentierte. Das aus den Kurzinterviews digital aufgezeichnete Datenmaterial wurde sinngetreu (nicht phonetisch) und regelgestützt transkribiert und mithilfe der Software MAXQDA ausgewertet.[279]
Stichprobenplan der geführten Kurzinterviews | |||||||
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Alter | Herkunft | Deutschschweiz | Romandie | Deutschland/Ausland | |||
Bildung | Geschlecht | Mann | Frau | Mann | Frau | Mann | Frau |
Jugendliche (< 19 J.) | B21 | B5 | |||||
Erwachsene (1), –50 J. | B10, B11, B29, B42 | B28, B31, B32, B39, B45, B48 | B25 | B16 | |||
Erwachsene (2), –50 J. | B20, B37, B33, B55, B61 | B58, B60 | B47 | ||||
Erwachsene (3), –50 J. | B44 | B51 | B1, B17 | B38, B62 | B22, B56 | ||
Erwachsene (1), –65 J. | B41 | B40, B43 | |||||
Erwachsene (2), –65 J. | B23, B59, B57 | ||||||
Erwachsene (3), –65 J. | B36, B35 | B34 | |||||
Erwachsene (1), ab 66 J. | B30, B46, B52, B50 | B6, B7, B15, B18, B26 | B24 | (B49) | |||
Erwachsene (2), ab 66 J. | B8, B12, B27 | ||||||
Erwachsene (3), ab 66 J. | B19 | B2 | B3, B13, (B54) | B4, B14, (B53) | |||
Total 1 (Interviewte) | 23 | 17 | 2 | 6 | 8 | 5 | |
Total 2 (Herkunft) | 40 | 8 | 13 | ||||
Total 3 (Geschlecht) | Männer | 33 | Frauen | 28 |
Darstellung 7