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Wahrnehmung jenseits von Wertung
ОглавлениеWie wir gesehen haben, ist es eine entwickelte Fähigkeit des Geistes, sich über Dinge bewusst zu sein, ohne über sie urteilen zu müssen. Das bedeutet, sie als Ganzes erleben zu können – und damit auch den ihnen innewohnenden Aspekt des universellen Bewusstseins.
Eine andere Fähigkeit des Geistes besteht darin, zu beurteilen und zu werten. Sie teilt die Welt auf in Kategorien wie alt und neu, hilfreich und nutzlos, hässlich und schön etc. Zum Teil handelt es sich dabei um notwendige Orientierungsmuster, die uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden. Je stärker wir aber pauschal wertende Kategorien wie »gut« oder »schlecht« kreieren, umso starrer werden die Identität und Bindung (Samyoga), die daraus hervorgehen. »Gut« oder »schlecht« sind keine Kategorien des Selbst. Das Selbst pulsiert völlig unabhängig zwischen den inneren und äußeren Bedürfnissen.
In Krisen werden solche Bewertungen häufig zu einem dysfunktionalen Wertesystem zusammengefügt. Das bedeutet, dass immer weniger unmittelbar erfahren, betrachtet und gefühlt wird. Stattdessen dominiert ein selektiver Blick, der Menschen und Dinge, Gefühle und Gedanken in Kategorien aus vorgefertigten Meinungen und alten Erfahrungen einsortiert. Die Dominanz solcher »Voreinstellungen« führt zu einer Verformung und Verfärbung der Realität (Cittavritti). Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern durch die Brille unserer vorgefassten Meinungen. Die Gestalttherapie bezeichnet das als »Ego-Prozess«: »Das bin ich, und das bin ich nicht.«
Schwierig wird es, wenn scheinbar »schlechte« Gefühle in uns aufsteigen, die nicht zu unserer »guten« Identität passen. Diese »unpassenden« Seiten werden dann mithilfe verschiedener Abwehrmechanismen vor der eigenen Identität verborgen. Wir entziehen sie unserem Gewahrsein. Allerdings wird unsere Selbst-Wahrnehmung damit unvollständig, und was wir in unserm Inneren nicht kennen, verstehen wir auch nicht in der äußeren Welt. Im ersten Schritt sind wir uns selbst fremd geworden, im zweiten Schritt entfremden wir uns von der Welt. Je länger ein solches (Persönlichkeits-)System existiert, umso starrer und unbeweglicher wird es.
Aus der Perspektive einer integrativen Yogapsychologie steht Sattva nicht für ideale Eigenschaften wie Reinheit und Licht. Sattva steht vielmehr für die geistige Fähigkeit und Bereitschaft wertfreier, achtsamer Wahrnehmung und Erkenntnis.