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Die Farbe der Stille

Kein Laut drang an ihr Ohr. Die blütenweiße Bettdecke bis zur Nasenspitze hochgezogen, lauschte Emma in die morgendliche Stille. Weder das Murmeln des Baches noch der leiseste Windhauch, der häufig um die Hütte strich, waren zu hören. Selbst die Bergdohlen schwiegen.

Am Vortag hatte es gestürmt und der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Im strömenden Regen, nass bis auf die Knochen, hatte Emma ihre Taschen aus dem Auto in das Häuschen geschleppt und im Anschluss als Erstes ein Feuer im Ofen in der holzgetäfelten Stube entfacht. In zwei Tagen war Heiligabend. Emma, die zusammen mit ihren Freunden das Fest romantisch im Schnee feiern wollte, fühlte sich ernüchtert, als sie sah, wie das Regenwasser sintflutartig an den Fensterscheiben herunterströmte. Leider ließ das Wetter sich nicht ändern. Im Handumdrehen hatte sie der Hütte ein Festtagskleid verpasst und bevor die Müdigkeit sie vollends übermannt hatte, hatte sie Lebensmittel und ihre Kleidung in den Schränken verstaut. Beim Einschlafen hatte sie dem Sturm gelauscht, der wie ein wildes Wesen fauchend tobte, in der tröstlichen Gewissheit, die Hütte hatte Naturgewalten dieser Art seit Jahrzehnten getrotzt. Sie hatte es direkt gemütlich gefunden, als sie dick eingemummelt in frische Bettwäsche, die noch den Duft des Bergsommers in sich trug, langsam in den Schlaf geglitten war, während der Regen auf das Dach prasselte.

Jetzt schien es, als hätte es das Unwetter nur in ihrem Traum gegeben. Ein helles, verheißungsvolles, ganz besonderes Licht erfüllte den Raum. Das konnte nur eins bedeuten. In freudiger Erwartung des Anblicks, der sich ihr bieten würde, sprang Emma aus dem Bett. Sie schob die gelben Vorhänge beiseite und war dennoch überrascht. Weiß. Alles war weiß. Dichter Schneefall. Mit weit aufgerissenen Augen bestaunte sie das Naturschauspiel. Emma konnte der Versuchung nicht widerstehen und öffnete das Fenster. Ein Schwall frischer, eisigkalter Luft zusammen mit einer Schneewolke wehte in ihr Zimmer. Umgehend drückte Emma das Fenster wieder zu. Der Planung nach wollten ihre Freunde am Mittag kommen. So wie es aussah, machte das Wetter ihnen einen Strich durch die Rechnung.

Wenige Minuten später saß Emma in der Stube, eine große Tasse heiß dampfenden Kaffees vor sich, und starrte zum Fenster hinaus. Offensichtlich ließ der Wind bereits nach, wie sie eben auch in der Wettervorhersage gehört hatte, und später sollte es nicht mehr schneien. Noch tanzten dicke Flocken wie pirouettierende Daunenfedern vor den Scheiben, verschluckten die dahinterliegende Landschaft. Emma konnte den Blick nicht von dem weißen Wirbel abwenden, den sie stundenlang wie ein bezauberndes Gemälde hätte bewundern können. Keine Flocke glich der anderen, jeder Schneekristall war ein Kunstwerk. War die Schönheit einzelner Schneeflocken jemals beschrieben worden?

Was für ein Glück sie hatte, dachte sie, hier drinnen war es angenehm warm, das leichte Aroma des Arvenholzes der Stube lag in der Luft und unverhofft hatte sie plötzlich noch Zeit für sich. Entspannt lehnte sie sich zurück auf der Bank, kuschelte sich in die Schaffelldecke, im Ohr das beruhigende gleichmäßige Ticken der Standuhr, und betrachtete die Welt dort draußen, die wie eine riesige Schneekugel anmutete. Sie griff nach der Kaffeekanne, schenkte sich eine zweite Tasse ein, gab Milch dazu. Wie wäre es, überlegte sie, nach draußen zu gehen, hinein in dieses magische Winterwunderland?

In mehrere Schichten verpackt, mit Mütze, einem zweimal um den Hals geschlungenen Schal und dicken Handschuhen zog Emma wenig später die Tür hinter sich ins Schloss und trat hinein in die makellose Pracht. Die Stille, die sie umfing, war fast unwirklich. Als atmete die Welt nicht mehr. Mindestens fünfzehn Zentimeter Schnee waren gefallen, stellte sie mit Blick auf die Sitzbank vor dem Fenster fest, die ein dickes weißes Polster trug. Einen Moment lang rang Emma mit sich, ob sie den Schneeschieber holen und den Weg räumen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Wozu die Herrlichkeit zerstören?

Vorsichtig setzte Emma ihren im Winterstiefel steckenden Fuß in die weiße Masse und sah zu, wie er eintauchte. „Die erste Spur“, dachte sie beglückt und setzte den zweiten Schritt und den dritten. Dort, wo gestern Trittsteine in der Nässe geblinkt hatten, begann sie ihren Rundgang, watete ein paar Schritte um die Hütte herum. Sie ließ ihren Blick durch den kleinen Garten schweifen, der unter einer weißen Decke ruhte. Hinter dem Staketenzaun, am nahe gelegenen Bach, wirkten die dunklen Tannen mit ihren Schneehauben wie Fremdkörper in der schier endlos weißen Fläche.

Emma hatte Lust auf einen Spaziergang und kurz darauf stapfte sie auf der verschneiten schmalen Straße, die sich aus dem Tal an ihrem Haus vorbei auf einen der Berggipfel wand. Mühsam setzte sie einen Schritt vor den nächsten, keuchte, kam quälend langsam voran, geriet ins Schwitzen. So schwer ihr jeder Schritt auch fiel, sie fühlte sich großartig. Unter ihren Füßen knirschte der Schnee. Das Laufen in der zugedeckten Landschaft, in der alle Konturen verwischt waren, hatte etwas Meditatives an sich. Sinne verloren an Bedeutung, ebenso Zeit und Raum. Alles verlor sich in dieser einzigen weißen Weite. Was blieb, waren Gedanken und ein erhebendes Gefühl. „Die Umgebung ist heilsam für die Seele“, dachte sie, während sie sich beharrlich auf der Straße vorwärts kämpfte, die bald eine ganzjährig bewohnte Hütte passierte. Jedes Mal, wenn sie stehen blieb, versank alles um sie herum in Geräuschlosigkeit. Die Welt war in Watte gepackt – zusammen mit dem Stress und der Hektik des Alltags. Für eine kleine Weile war Emma von dem Rest des Universums abgeschirmt. Und sie verstand, warum Menschen ins Kloster gingen. In der lauten Welt von heute war Stille ein kostbares Gut.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie bereits unterwegs war. Irgendwann erreichte sie die Brücke, unter der ein Bach verhalten gurgelte. Später im Winter wäre das Wasser unter einer weißbläulich schimmernden Eisschicht verschwunden.

Emma lief weiter. Kurz darauf schob sich etwas Dunkles aus der Flockenwand heraus. Die Perner-Hütte. In den nächsten Tagen würde sie ihren Nachbarn einen Besuch abstatten, aber nicht jetzt.

Zeit für den Heimweg. Bergab lief sie die Straße, auf der ihre Spuren vom Anstieg fast zugeschneit waren, viel schneller als hinauf, zwischendurch geriet sie immer wieder ins Rutschen.

Ein Krächzen über ihr ließ sie innehalten. Der Atem dampfte in kleinen Wolken vor ihrem Gesicht, als sie einer Handvoll Bergdohlen nachblickte, die durch den lichter werdenden Niederschlag flogen. Wie der Wetterbericht vorhergesagt hatte, nahmen die Schneefälle ab. Emma entdeckte ein winziges Stück Blau zwischen den dramatisch aufgebauschten Wolken, deren Formen sich nun immer mehr aus dem grauweißen Einerlei herausschälten. Konnte sie sogar einen der weiß bemützten Berggipfel erkennen?

Mit einem Mal vernahm sie ein tiefes Brummen, ein Geräusch, das langsam aber stetig näherkam. Als sie über die nächste Kuppe schritt, sah sie die blinkenden Lichter des Winterdienstes. Er hatte sich bereits ein ganzes Stück am Berg hochgearbeitet, eine dunkle Schneise der geräumten Strecke hinter sich herziehend.

„Auf die Männer ist Verlass“, dachte sie. Nun würden ihre Freunde nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Zeit für Weihnachten“, dachte sie und spürte das Gefühl der Vorfreude in sich aufwallen.

Bettina Schneider: 1968 in Berlin geboren, verheiratet, zwei Kinder und ein Hund, Studium der Betriebswirtschaftslehre, im Anschluss zehn abwechslungsreiche Jahre im Rechnungswesen in der Privatwirtschaft, heute Freiraum für kreative Tätigkeit. Sie schreibt mit Begeisterung Kurzgeschichten und Erzählungen, einige davon sind veröffentlicht. Hobbys: Lesen, Schreiben, Tagebuchschreiben, Spaziergänge mit dem Hund und Joggen.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 13

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