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Wie groß ist unsere Welt?

„Papi?“, fragte Sammy, nachdem die Hasenmutter eine Schüssel mit saftig grünen Salatblättern auf den Tisch gestellt hatte. „Wie groß ist eigentlich unsere Welt?“

Der Hasenvater verschluckte sich an einem Salatblatt und hustete, bis ihm die Tränen aus den Augen liefen. Er trank einen Becher Wasser, atmete mehrmals tief durch und räusperte sich. „Wie kommst du denn auf diese Frage?“

„Wir hatten gestern Erdkunde in der Schule“, antwortete Sammy, „und unser Lehrer Alfons meinte, dass die Welt riesengroß sei. Stimmt das?“

„Na ja“, antwortete der Hasenvater und rieb sich die Nase, was er immer tat, wenn er nicht genau wusste, was er sagen sollte. „Die Wiese gehört dazu, der ganze Wald und dahinter geht die Welt noch ein Stückchen weiter.“

„Das ist alles?“

„Dein Vater wollte sagen, dass er nicht genau weiß, wie groß die Welt ist“, mischte sich die Hasenmutter ein. „Hasen haben ein bestimmtes Revier und leben dort. Viel mehr bekommen sie von der Welt nicht zu sehen.“

„Ach so“, entgegnete Sammy. „Ich möchte trotzdem die ganze Welt kennenlernen!“

„Nun ist aber Schluss mit dem Unsinn!“, rief der Hasenvater ärgerlich und schlug mit der Pfote auf den Tisch. „Du kannst mir morgen bei der Ernte helfen. Da besteht die Welt aus einem Löwenzahnfeld mit vielen jungen Blättern. Das ist eine sinnvolle Tätigkeit, die uns allen zu einem vollen Magen verhilft. Jetzt nimm die Teller und bringe sie in die Küche!“

Sammy stand auf, sammelte das Geschirr ein und stellte es ins Spülbecken.

Der Lehrer Alfons hatte auch erzählt, dass es Schneehasen gibt, die ein weißes Fell haben. Aber Sammy traute sich nicht mehr, seinen Vater danach zu fragen.

Am nächsten Morgen lief Sammy schon früh zu seinem Freund Nick, der ganz in der Nähe wohnte. „Hast du deine Eltern auch nach der weiten Welt gefragt?“

Nick schüttelte den Kopf. „Sie waren überhaupt nicht begeistert, und Vater will sogar mit dem Lehrer Alfons sprechen. Er soll die Häschen nicht auf dumme Gedanken bringen, sondern ihnen zeigen, was im Leben wirklich wichtig ist.“

„Und was ist wirklich wichtig?“

Nick zuckte mit den Schultern und beide lachten.

„Du, Nick“, sagte Sammy plötzlich. „Wie wäre es, wenn wir beide losziehen, um ein Stück von der Welt zu entdecken. Ich würde so gern einen Schneehasen treffen.“

„Meinst du das wirklich?“, fragte Nick und blickte seinen Freund überrascht an. „Ich hatte heute Nacht genau denselben Gedanken.“

„Hör zu! Heute muss ich bei der Ernte helfen, doch morgen packen wir unsere Rucksäcke und gehen los. Nur wir beide. Wie findest du das?“

„Großartig!“, rief Nick und grinste über das ganze Gesicht. „Wir suchen den Schneehasen. Aber was werden unsere Eltern sagen?“

„Wir erzählen ihnen, dass wir einen Ausflug machen“, antwortete Sammy, „das ist nicht gelogen.“

Die Sonne stieg hinter den Bäumen hervor, als sich Sammy und Nick vor dem Hasenbau trafen. Sammy kannte den Anfang der Strecke von den Spaziergängen, die sein Vater mit ihm manchmal unternahm und auf denen sie sich spannende Geschichten erzählten. Aber dieses Mal war er mit Nick unterwegs, und das war etwas ganz anderes.

Die beiden Freunde erzählten sich Witze und lachten. Ab und zu aßen sie eine Karotte, damit der Rucksack leichter wurde, und sie liefen immer weiter, bis sie den Wald erreichten. Sammy blickte zum Himmel. Dunkle Wolken hatte die Sonne verdrängt, und es begann zu regnen. Die beiden Hasen kauerten sich unter eine große Eiche. Sie hatte viele Äste und Blätter und schützte die beiden vor der Nässe. Die Abenddämmerung brach allmählich herein, aber der Regen hörte nicht auf, und so gab es für die beiden Hasen keine Möglichkeit, ein besseres Nachtquartier zu suchen.

„Im Hasenbau ist es viel wärmer“, stellte Nick fest, nachdem er vergeblich versucht hatte, die herabfallenden Wassertropfen zu zählen. „Außerdem ist es dort nicht so nass.“

„Wer redet denn so laut mitten in der Nacht?“, fragte plötzliche eine tiefe Stimme über ihnen.

Die Häschen zuckten zusammen und legten sich flach auf den Boden. Es raschelte in den Blättern der Eiche, ein Uhu kam herabgestiegen. Er setzte sich auf einen der unteren Äste und betrachtete die beiden Abenteurer neugierig.

„Zwei junge Hasen gehen im Dunkeln spazieren“, sagte er und wackelte bedächtig mit dem Kopf. „Ich an eurer Stelle würde lieber im Hasenbau schlafen. Was macht ihr eigentlich hier so spät?“

„Wir suchen den Schneehasen“, rief Nick mutig, „und wir suchen ihn so lange, bis wir ihn finden.“

Da lachte der Uhu so heftig, dass der Ast, auf dem er saß, wackelte. „Um den Schneehasen zu treffen, müsste selbst ich viele Tage und Nächte fliegen. Bis dahin ist es weit, sehr weit. Was ist denn so besonders an einem Schneehasen, dass ihr unbedingt einen sehen wollt?“

Die beiden Häschen überlegten.

„Er hat ein weißes Fell“, meinte Sammy schließlich.

„Richtig“, erwiderte der Uhu. „Er hat ein weißes Fell und ihr habt ein braunes Fell. Der Schneehase lebt in einem Land, wo es eine Menge Schnee gibt und der Winter viele Monate dauert. Das weiße Fell dient dem Schneehasen als Tarnung, damit ihn seine Feinde nicht so leicht erkennen. Das ist alles.“

„Das ist alles?“, wiederholte Sammy erstaunt und blickte Nick an.

„Ja“, antwortete der Uhu, breitete seine Flügel aus und flog in die Nacht, um Mäuse zu jagen.

Am nächsten Morgen schien wieder die Sonne. Der Wind hatte die Regenwolken weggeblasen, und es schien ein richtig schöner Tag zu werden. Nick und Sammy hatten kaum geschlafen und waren nass geworden, weil der Regen während der Nacht durch die Blätter tropfte. Außerdem dachten sie über die Worte des Uhus nach.

„In einem Land, in dem es so kalt ist, möchte ich nicht leben“, sagte Nick nach einer Weile.

Sammy schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht“. Die beiden liefen langsam weiter und schwiegen.

„Du Sammy“, begann Nick, „wir haben jetzt schon einiges von der Welt gesehen. Ich glaube, ich würde gern umkehren.“ Einen kurzen Moment fürchtete er, Sammy würde ärgerlich werden, weil er schon so früh aufgeben wollte. Doch das war nicht der Fall.

„Ich dachte gerade an die Hasenmutter und den Hasenvater“, erwiderte Sammy. „Sie werden sich Sorgen machen, und eigentlich sollte ich ihnen in den nächsten Tagen wieder bei der Ernte helfen.“

Ein Rabe saß auf einem Zaunpfahl und beobachtete die zwei. „So, so, die beiden Wanderer haben Heimweh. Wisst ihr eigentlich, dass bald die Osterzeit beginnt? In der Rabenschule habe ich gelernt, dass alle Hasen mit Begeisterung ans Werk gehen, um den Menschen auf der ganzen Welt eine Freude zu bereiten. Sollen die Osternester dieses Jahr leer bleiben? Wollt ihr den Kindern erzählen, dass ihr keine Zeit hattet?“

Die Häschen sahen sich an.

„Ich glaube, ich will jetzt sofort nach Hause!“, riefen beide gleichzeitig.

Der Rabe schlug mit den Flügeln. „Geht über die Steinbrücke da vorn, dann weiter geradeaus und am Waldesrand rechts einbiegen. Den Rest des Weges findet ihr selbst. Viel Glück!“

Die beiden Hasen sausten los. Sie hasteten über die Brücke, bis sie den Wald erreichten, bogen rechts ab, wie der Rabe es ihnen geraten hatte, und rannten so lange, bis sie am Hasenbau ankamen.

„Na, du kleiner Ausreißer“, sagte die Hasenmutter, als sie Sammy abends ins Bett brachte. „Ist die Welt so groß, wie der Lehrer Alfons behauptet?“

„Ja, Mama, die Welt ist riesengroß. Aber darauf kommt es eigentlich gar nicht an. Ich weiß jetzt, dass hier mein Platz ist. Ich möchte bei euch und meinen Freunden leben. Das ist mir viel wichtiger.“

Volker Liebelt, geboren 1966, Öhringen, Bankkaufmann, hat über 40 Geschichten in Anthologien veröffentlicht. Nach „Keiner spielt mit mir“, „Die Rosenkönigin“ und „Ein neuer Freund“ ist das die 4. Ostergeschichte mit den Hasen Sammy und Nick für die Reihe „Wie aus dem Ei gepellt – Erzählungen, Märchen und Gedichte zur Osterzeit“.

Wie aus dem Ei gepellt ...

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