Читать книгу Distinktion durch Sprache? - Martina Zimmermann - Страница 6
1 Einleitung
ОглавлениеVor rund 12 Jahren – ich war damals an der Pädagogischen Hochschule des Kantons St. Gallen in der Ausbildung zur Primarlehrerin – absolvierte ich ein Jahr meines Bachelor-Studiums in der französischsprachigen Schweiz (Lausanne). Dazu ermuntert wurde ich von der institutionsinternen Mobilitätsbeauftragten, die im Rahmen eines Vortrags für die Mobilität warb. Gerne hätte ich damals ein Semester in Schottland verbracht – ich wollte mein Englisch verbessern –, allerdings waren an der jungen Institution noch keine Verträge mit internationalen Partnerschulen unter Dach und Fach. So nahm ich stattdessen am Austauschprogramm „Mobilité Suisse“ teil, das Studierende dazu anregt, innerhalb der Schweizer Landesgrenzen mobil zu werden.
Im Herbst 2004 sass ich dann z.B. in einer Biologievorlesung an der Universität Lausanne, in der ein Professor über die „Dépollution“ (Entgiftung) von Luft im Zusammenhang mit dem Blattbestand von Bäumen referierte. Erst Tage darauf verstand ich, dass dies nichts mit „pollinisation“ (Bestäubung) zu tun hatte. Ebenso besuchte ich Französisch-Didaktik-Seminare, in denen auf erstsprachige Kinder ausgerichtete Hörtexte miteinander verglichen wurden, wobei es mir nicht gelang, die diskutierten Unterschiede zu identifizieren. Nebenher arbeitete ich in einem Café im Zentrum von Lausanne, versuchte mir Bestellungen zu merken, für mich bedeutungslose Audiostränge, bei denen das Segmentieren semantisch sinnvoller Glieder unmöglich war (z.B. /œ͂teosinɔʀɔdosilvuplɛ/ für „un thé au cynorrhodon s’il vous plaît“, einen Hagebuttentee, bitte). Zu diesen sprachlichen Herausforderungen kamen andere, die damit zu tun hatten, dass ich die Institution, die Stadt etc. kaum kannte. So realisierte ich etwa, dass Fahrkarten für das Stadtverkehrsnetz nur an Automaten bezogen werden konnten, die übrigens kein Retourgeld gaben, und Kontrolleure im Bus nur büssten, statt, wie ich es gewohnt war, den Passagieren Billetts zu verkaufen.
Lausanne war nicht meine einzige Erfahrung studentischer Mobilität. Mit meinem Wechsel an die Universität Freiburg hatte ich auch mit einem Bildungssystem zu tun, das nicht in jener Sprache funktionierte, in der ich meine Studienreife erlangt hatte. Es folgten Studienaufenthalte in Barcelona und Bolzano. Später kamen berufliche Mobilitätserfahrungen dazu – nach meiner Ausbildung war ich als Lehrerin in England und in Italien tätig.
Immer wieder traf ich innerhalb meiner Mobilitätserfahrungen – ob studentischer oder professioneller Natur – auf Zusammenschlüsse, in denen sich Menschen gleicher geographischer und/oder sprachlicher Herkunft in ihrer neuen und ihnen fremden Umgebung zusammentaten. Ich mied solche Gruppierungen eher, wunderte mich über das Bedürfnis ihrer Mitglieder, ihnen anzugehören, und fragte mich, weshalb diese Menschen, die „bloss“ Sprache und/oder geographische Herkunft teilten, miteinander Zeit verbrachten. Ferner hatte ich Mühe zu verstehen, weshalb – so meine retrospektiv formulierte Perspektive – man sich zeitweise der Möglichkeit verschloss, die lokal dominante Sprache zu erwerben; für mich war damals meine Dislokation jeweils an die Chance gekoppelt, meine Sprachkompetenzen zu verbessern.
Die Fragen, welche ich mir damals, veranlasst durch meine eigene studentische Mobilität, stellte, und die Perspektive, von der aus ich diese betrachtete, haben sich mit den Jahren, in welchen ich mich mit Soziolinguistik auseinandersetzte, verändert. Mein Interesse an der studentischen Mobilität über landesinterne Sprachgrenzen hinweg ist aber lebendig geblieben; aus ihm nährt sich meine Motivation zur Erarbeitung dieser Untersuchung. Sie widmet sich jenem Stellenwert von Sprache, der ihr in Diskursen und Praktiken im Zusammenhang mit der studentischen Mobilität im schweizerischen Hochschulsystem zukommt. Das erwähnte Interesse verlangte von mir, über individuelle Mobilitätserfahrungen von Studierenden hinauszugehen und institutionelle Diskurse und Praktiken zur Mobilität im Tertiärbereich einzubeziehen. Ferner wurden die Geschichte der Universität, analog zu welcher die Studentenmobilität entstand, und mit ihr die politisch-ökonomischen Bedingungen relevant, die studentische Mobilität erst ermöglichten und weiterhin ermöglichen. Ausserdem wurden Zusammenschlüsse, die Studierende mit gleichem sprachlichem Hintergrund und gleicher geographischer Herkunft vereinigten – vormals war ich ihnen mit Argwohn aus dem Weg gegangen – zu einem analytisch interessanten sozialen Raum, in dem Diskurse und Praktiken die Situation der Mobilität widerspiegeln.
In den zwei letzten Jahrzehnten hat die Schweizer Hochschullandschaft erhebliche Veränderungen erfahren. Zum einen besteht seit 1996 auch in der italienischsprachigen Schweiz, dem Tessin, die Möglichkeit, ein Studium zu machen, was bedeutet, dass seither in drei von vier Sprachregionen der Schweiz universitäre Bildung angeboten wird. Trotz dieser Option verlässt die Mehrheit der Tessiner MaturandInnen zwecks des Studiums die Herkunftsregion und immatrikuliert sich an einer Universität in der französischsprachigen oder deutschsprachigen Schweiz. Die vorliegende Arbeit geht dem Verhalten dieser studentischen BinnenwandererInnen auf den Grund, und widmet sich insbesondere denjenigen TessinerInnen, die sich für ein Studium in der Deutschschweiz entscheiden. Sie stellen eine interessante Gruppe Studierender dar. Denn erstens verfügen sie erst seit vergleichsweise kurzer Zeit in der eigenen Sprachregion über ein Angebot an universitärer Bildung, von dem sie grösstenteils nicht Gebrauch machen. Zweitens ist der Deutschschweizer Kontext mit seinem Nebeneinander von Standarddeutsch und Dialekt interessant, ein Kontext, in welchen die TessinerInnen – Standarddeutsch wird an Tessiner Schulen als Fremdsprache unterrichtet, nicht aber Schweizerdeutsch – sich mittels ihrer Mobilität begeben.
Zum andern hat sich die gesetzliche Grundlage der Schweizer Hochschulen verändert. Aktuelle Gesetzesartikel fördern vermehrt den Wettbewerb unter universitären Hochschulen. Die Bildungsstätten profitieren von staatlichen Subventionen, deren Höhe sich u.a. danach bemisst, wie erfolgreich sich eine Universität gegenüber ihrer Konkurrenz behaupten kann.
Auf diesen Vorbedingungen basieren die Überlegungen und Analysen dieser Arbeit. Sie ergründet, welcher Stellenwert der Sprache in Diskursen und Praktiken zukommt, die mit der intra-nationalen studentischen Mobilität über Sprachregionen in der Schweiz hinweg einhergehen. Mittels einer „multi-sited“ Ethnographie, die auf Prämissen der kritischen Soziolinguistik basiert, analysiert die Untersuchung, wie in der sich verändert habenden Schweizer Hochschullandschaft der Wunsch nach Mobilität kreiert und legitimiert wird und wie Mobilität und damit verbundene Herausforderungen bewältigt werden.
Dieses Vorhaben leitet die nachfolgenden Kapitel. Zuerst (Kapitel 2) skizziere ich die Geschichte und die Gegenwart der Hochschulen und umreisse die Entstehung universitärer Institutionen, welche die akademische Mobilität mit sich brachten. Weiter lege ich dar, wie es um die akademische Mobilität in Geschichte und Gegenwart in der Schweiz stand bzw. steht. Es folgt ein knapper Überblick über die Forschung zum Thema der studentischen Mobilität, und es wird auf bestehende Lücken in der Erkundung dieses Themas hingewiesen. Vor diesem Hintergrund wird erörtert, welchen Beitrag die vorliegende Arbeit leisten und wie sie sich positionieren will. Es werden die Forschungsfragen formuliert, und es wird erklärt, welche Daten zur Beantwortung derselben mit welcher Methode erhoben wurden und wie diese analysiert werden. Ausserdem werden drei theoretische Konzepte, die dem Vorhaben dienlich sind – nämlich Mobilität, Sprachideologie und politische Ökonomie – vorgestellt.
Das Kapitel 3 ist der Methodologie gewidmet. Es wird aufgezeigt, weshalb ein ethnographischer Ansatz für das Forschungsunterfangen gewählt wurde und wie dieser im Detail aussieht.
Darauf folgen drei analytische Kapitel. Kapitel 4 analysiert, wie der Wunsch nach Mobilität geweckt wird. Eine Analyse gesetzlicher Grundlagen und institutioneller Dokumente (Werbematerial), von Feldnotizen und Interviews mit an Hochschulen tätigen Personen zeigt, dass Tertiärinstitutionen in ihren universitären Promotionsdiskursen und -praktiken ihre je eigenen Vorteile in einem gesetzlich kompetitiv geprägten Setting hervorheben. Dabei wählen sie Strategien, die ihre Hochschule als die „richtige“ erscheinen lassen. In Bezug auf italofone Studierende wird die Sprache zum Instrument, mittels dessen der Studierendengruppe die für sie besonders relevanten Vorteile kommuniziert werden.
Kapitel 5 ist der Analyse von Interviews mit GymnasiastInnen und Studierenden aus dem Tessin gewidmet. Es legt dar, dass in ihren Begründungen der herannahenden oder zurückliegenden Entscheidung für ein Studium die sprach-politische Situation des Landes und ihre Konsequenzen für die Bildungssysteme der verschiedenen Sprachregionen und die markt-wirtschaftliche Dimension zum Ausdruck kommen.
In Kapitel 6 ergründe ich die zahlreichen Herausforderungen, die Tessiner Studierende im Zusammenhang mit ihrer Dislokation konstruieren, und gehe der prominenten Strategie, diesen Herausforderungen im Tessiner Studierendenverein zu begegnen, auf den Grund. Eine Analyse der Vereinspraktiken zeigt, dass die Individuen in ihrer Mobilitätserfahrung im Verein Unterstützung suchen und bekommen. Die individuelle Mobilitätserfahrung widerspiegelt sich in den institutionellen Praktiken und sichert das Fortbestehen des Vereins.
Die ethnographische Untersuchung erlaubt ein tiefgründiges Verständnis soziolinguistischer Praktiken und der ihnen zugrunde liegenden Sprachideologien verschiedener voneinander abhängiger Akteure in der tertiären Bildung (Hochschulen, GymnasiastInnen, Studierende). Das Deuten der Ergebnisse vor dem Hintergrund historischer und politisch-ökonomischer Bedingungen inner- und ausserhalb der Schweiz gibt ausserdem Aufschluss darüber, wie sich in Praktiken der studentischen Mobilität marktwirtschaftliche Interessen lokaler, nationaler, europäischer und globaler Natur widerspiegeln (Kapitel 7). Diese Interessen haben Einfluss darauf, welcher Stellenwert Sprache unter welchen Bedingungen zukommt und wie Sprache instrumentalisiert wird. Abschliessend zeige ich auf, welche gesetzlichen Veränderungen in dieser Arbeit noch nicht berücksichtigt worden sind, und führe aus, welche weiterführenden Fragen sich in zukünftigen Forschungsarbeiten aufgreifen liessen.