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1. Die Wahl des Staatschefs in allgemeiner Direktwahl und deren Folgen für das politische System

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Die Wahl des Präsidenten der Republik in allgemeiner Direktwahl wurde erst durch das Art. 6 CF ändernde Verfassungsgesetz vom 6. November 1962 eingeführt. Seit dem Referendum vom 8. April 1962, mit dem die zwischen der französischen und der provisorischen Regierung Algeriens getroffenen Vereinbarungen von Évian massive Zustimmung finden, ist die Algerienkrise – zumindest an der Oberfläche – zu Ende. Während des Konflikts mit Algerien ist die französische Politik gleichsam zu einer „one man show“ geworden:[89] der Staatschef steht im Mittelpunkt des politischen Geschehens. Am 14. April 1962 ersetzt de Gaulle seinen Premierminister Michel Debré durch Georges Pompidou. Das Parlament erlebt einen Affront, da der Premierminister seine Ernennung allein der Gunst des Präsidenten zu verdanken hat. Das Regime präsidentialisiert sich in verstärktem Maße und es stellt sich die Frage nach der Nachfolge. De Gaulles Legitimität ist weniger demokratischer Natur denn historischer, und die Wahl, wie sie 1958 eingeführt wurde (durch ein Wahlkolleg aus Abgeordneten und Repräsentanten der départements und Gemeinden) kann de Gaulles Nachfolger nicht mit der zur Ausübung des herausragenden politischen Amtes erforderlichen Legitimität ausstatten.[90] Am 22. August stellt sich die Frage in zugespitzter Form: Ein von den Nostalgikern des französischen Algeriens verübtes Attentat in Petit-Clamart hätte den Staatschef beinahe das Leben gekostet. Dieses Ereignis beschleunigt den Verlauf einer vorausgeplanten Reform.

Die allgemeine Direktwahl war zur zwingenden Notwendigkeit geworden. Zwar hatte de Gaulle diese Forderung schon seit 1958 gestellt, doch hatte er in Erinnerung an den Staatsstreich, den der vom französischen Volk zum Präsidenten gewählte Louis-Napoleon Bonaparte, später Napoleon III., am 2. Dezember 1851 durchgeführt hatte, vorübergehend von dieser Idee Abstand genommen. Das Parlament sträubt sich gegen die Verfassungsreform. Ein Gewaltstreich wird erforderlich. Schon anlässlich des Referendums vom 8. April 1962 hatte der Staatschef mit Nachdruck die Tatsache betont, dass das Referendumsverfahren eine tief greifende Veränderung des politischen Systems bewerkstelligen sollte.[91] Die Reform des Präsidialwahlsystems sollte im Wege des Referendums erfolgen. Doch beschritt de Gaulle diesen Weg nicht über Art. 89 CF, der das Verfahren der Verfassungsänderung vorsieht, sondern direkt und sicherlich verfassungswidrig über Art. 11 CF und somit ohne parlamentarische Beratungen (unten Rn. 43ff.). Das Parlament reagiert mit einem Misstrauensvotum gegen die neue Regierung, woraufhin de Gaulle die Nationalversammlung auflöst und denselben Premierminister erneut ernennt. Die „Staatsgewalt“ ist insofern eindeutig stärker als die „demokratische Gewalt“, als sie sich auf ein plebiszitäres Element stützen kann, das seine – wenn auch verfassungswidrigen – Handlungen legitimiert.

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Die Wahl des Präsidenten in allgemeiner Direktwahl hat das politische System der Fünften Republik spürbar modifiziert und zugleich einige seit de Gaulles erstem Mandat prägende Züge verfestigt und verstärkt. Ausgeübt und verkörpert wurde die Staatsgewalt während des Algerienkriegs weitestgehend durch den Staatschef, der zu dieser Zeit aus der Symbolkraft der nationalen Einheit und der Mystik des Kriegschefs Nutzen ziehen konnte. Zum entscheidenden Zeitpunkt des Militärputsches in Algerien (April 1961) ergriff der Staatschef die Sonderbefugnisse aus Art. 16 CF und konzentrierte somit effektiv die Gesamtheit der vollziehenden und gesetzgebenden Gewalten in seiner Person. Kurzum, Frankreich erlebte einen Staatschef, der effektiv und unmittelbar „regierte“. Die Volkswahl bestätigte diese Entwicklung.

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Diese Wahl ist in der Tat eine direkte Persönlichkeitswahl. Die Wahlmodalitäten sind klarer und einfacher verständlich als die der Abgeordnetenwahlen, wodurch die Wahl des Staatschefs zu einem Ritual wird, dessen Symbolkraft ungleich bedeutender ist. Das politische Leben dreht sich in Frankreich nunmehr um den Augenblick dieser Wahl, aber selbstverständlich findet diese Wahl mit Blick auf konkrete politische Fragestellungen und die Regierungsprogramme statt. Die Franzosen treten den Gang an die Wahlurnen nicht an, um eine Art neutrales Symbol staatlicher Einheit und Kontinuität zu wählen. Vielmehr projizieren sie all ihre politischen Erwartungen auf den Staatschef, der die Regierungspolitik orientieren und leiten soll. Die Wahl ist der Einsetzung eines der Regierung übergeordneten Chefs gewidmet. Die Organisierung des gesamten politischen Systems richtet sich nach der Präsidentenwahl, sodass die politischen Parteien gewissermaßen Maschinen zur Herstellung von Präsidentschaftskandidaten werden. Ein Präsident kann also unmöglich ein über den Parteien stehender Schiedsrichter sein, zumal er das reinste Erzeugnis parteipolitischer Schemata darstellt, ganz gleich ob er eine Partei hinter sich vereint (François Mitterrand) oder die Partei spaltet und versucht, eine neue Kraft zu errichten (Jacques Chirac). Das Referendum, mit dem das Volk die Direktwahl des Präsidenten befürwortete, hat – anders als de Gaulle am Tag nach dem Votum behauptete – keineswegs „die Verurteilung des desaströsen Parteienregimes besiegelt“[92]; im Gegenteil, es hat die Parteien letztlich rehabilitiert und gestärkt. De Gaulles gesamte Symbolik und Mystik des Staatschefs war von den Fakten widerlegt worden. Nachdem Carl Schmitt die Figur des Präsidenten als „Hüter der Verfassung“ gezeichnet hatte, legte er übrigens etwas Realismus an den Tag: „Vielleicht kann man daran zweifeln, ob es auf Dauer möglich sein wird, die Stellung des Reichspräsidenten dem parteipolitischen Betriebe zu entziehen und in einer vom staatlichen Ganzen her bestimmten, unparteilichen Objektivität und Neutralität zu halten.“[93] Die französische Erfahrung zeigt, dass man an einer solchen Möglichkeit in der Tat Zweifel hegen kann. Mit der Auflösung der paradoxen, dem politischen System der Fünften Republik immanenten Transzendenz des Staatschefs und der Abkehr vom Gründermythos seit de Gaulles erstem Nachfolger hat sich das Regime gewissermaßen normalisiert und liberalisiert.

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 2. Die Belastbarkeitsproben der präsidentiellen Wechsel und der „Cohabitation“

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