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4. Der zunehmende Einfluss der Gerichtsbarkeit

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Wie in der Gesamtheit westlicher Demokratien haben die Richter auch in Frankreich gegen Ende des 20. Jahrhunderts einen erheblichen Machtzuwachs erfahren. Dies hat eine tief greifende Veränderung des Verfassungsrechts zu Folge. Allgemeiner formuliert ist das gesamte politische System „vom Recht ergriffen worden“[104] oder – präziser – von den Richtern. Wie Pedro Cruz Villalón schreibt, „ist die Verfassung zu einem historischen Zeitpunkt als ein Gerichtsbarkeit erfordernder Gegenstand erschienen; die Verfassung sozusagen als ein Wesen, das einer Justiz, eines Richters bedarf.“[105] Die Verfassungsgerichtsbarkeit trägt in Frankreich, wie in den meisten europäischen Ländern, diesem Bedürfnis in gewissem Maße Rechnung. Jedoch üben die sonstigen Gerichte auf Politik und Verfassung ebenfalls einen zunehmenden Einfluss aus. Zu erinnern ist an zahlreiche nationale oder grenzüberschreitende Rechtsphänomene und -modifikationen, die sich auf das Leben der Fünften Republik ausgewirkt haben: die Fortschritte im Bereich der europäischen Integration und das Gewicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die Anerkennung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und deren zunehmender Einfluss auf das französische System, die oben erwähnte Erweiterung der Normenkontrolle durch die Fachgerichte, die Systemreform hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Ministern (1993), all das getragen und unterstützt von einer gesellschaftlichen Entwicklung, die zu einer massiven Verrechtlichung sozialer Beziehungen führt. Die Entwicklung, die Luhmann 1987 pointierte, der zufolge „der Richter zum Sozio-Therapeuten umstilisiert werde“[106], geht weiter und ergreift nun alle Gebiete des Rechts.

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1958 wurde der Conseil constitutionnel als Verfassungsorgan für die „Regulierung der öffentlichen Gewalt“[107] konzipiert, dessen Rechtsprechungscharakter zumindest zweifelhaft war. Eine der großen Streitfragen innerhalb der Verfassungsrechtswissenschaft der 1970er Jahre war denn auch die Frage nach der rechtlichen Natur des Conseil constitutionnel (unten Rn. 73). Während das deutsche Bundesverfassungsgericht im berühmten Status-Bericht von 1952 neben seiner vom Grundgesetz eindeutig normierten Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan auch seine Eigenschaft als Verfassungsorgan mit dem Ziel durchgesetzt hat, seine Legitimität zu verfestigen und eine extensive Konzeption seiner Aufgabenfelder durchzusetzen, hat der Conseil constitutionnel als „öffentliche Gewalt von Verfassungs wegen“ in entgegengesetzter Richtung seine Eigenschaft als Rechtsprechungsorgan behauptet und verfestigt. Auch hier ging es darum, dieser Institution, ohnegleichen in der Geschichte, über die mehrdeutigen Gesetzestexte hinaus ein legitimatorisches Fundament zu geben. Dies hat der Conseil constitutionnel zunächst schrittweise und vorsichtig bewerkstelligt: einerseits, indem er recht bald die üblicherweise den Entscheidungen der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehaltene Form für seine Entscheidungen übernommen hat,[108] andererseits, sogar deutlicher, indem er Art. 62 CF, der die Bindungswirkung von Entscheidungen des Conseil constitutionnel normiert, dahingehend interpretiert hat, dass diesen Entscheidungen formelle Rechtskraft (autorité de chose jugée) zukomme.[109] Doch sollten zwei bedeutende Ereignisse im Laufe der 1970er Jahre eine tief greifende Veränderung der Funktionen des Conseil constitutionnel zur Folge haben.

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Zunächst trägt die berühmte Entscheidung vom 16. Juli 1971 zu einer beachtlichen Ausweitung seines Auftrags bei. Mit der Erkenntnis, dass die Präambel der Verfassung von 1958 über einen rechtlichen Gehalt verfügt und diese Präambel Bezug nimmt auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und die Präambel der Verfassung von 1946, spricht der Conseil constitutionnel diesen beiden Texten Verfassungsrang zu und ergänzt das geltende Verfassungsrecht durch eine Reihe von Freiheits- und Grundrechten, die dem förmlichen Verfassungstext von 1958 fehlen. Diese Rechte werden insofern zu maßgeblichen Normen der Verfassungsmäßigkeitskontrolle, als der Conseil constitutionnel seinem Auftrag zur „Regulierung der öffentlichen Gewalt“ den Auftrag zur Verteidigung der Bürgerrechte und Bürgerfreiheiten hinzufügt.[110] Jedoch hätte diese Ausdehnung allein nicht genügt, um dem Conseil constitutionnel eine derart starke Stellung im politischen System Frankreichs zu verschaffen. In der Tat konnte die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen nur auf Antrag eines begrenzten Personenkreises in Gang gesetzt werden, namentlich auf Antrag des Staatschefs, des Regierungschefs sowie der Präsidenten beider Parlamentskammern. Mit der Verfassungsänderung vom 29. Oktober 1974 wurde auch einer Mindestzahl von jeweils 60 Abgeordneten oder Senatoren das Recht eingeräumt, den Conseil constitutionnel zur Verfassungsmäßigkeitskontrolle einfacher Gesetze anzurufen. Seitdem ist also der parlamentarischen Opposition die Möglichkeit gegeben, von der Mehrheit beschlossene und verabschiedete Gesetze in Frage zu stellen. Die Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen wurde alsbald zum gewöhnlichen Verfahren und stellte nunmehr eine wesentliche Garantie der parlamentarischen Minderheitenrechte dar. Präsident Giscard d’Estaing, der die Initiative zu dieser Reform ergriffen hatte, erklärte in einer recht optimistischen Rede vor dem Conseil constitutionnel am 8. November 1977 den „Rechtsstaat“ in Frankreich somit endgültig für errichtet.[111]

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › II. Die Entwicklung des Verfassungssystems › 5. Die Verfassungsänderung

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