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a) Die institutionelle Frage als beständiges politisches Problem der französischen Verfassungsgeschichte

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„In Frankreich“, schreibt Jean-Marie Denquin ganz richtig, „ist die Verfassung seit der Revolution immer schon ein politisches Streitobjekt, eine nie beendete Baustelle, die Ursache allen Übels und das Sammelbecken aller Hoffnungen gewesen.“[26] Paradoxerweise sind Verfassungstexte im Allgemeinen einerseits mit beachtlicher Symbolkraft ausgestattet, andererseits werden sie bisweilen als Quelle der schwerwiegendsten Übel aufgefasst, die den Staat heimsuchen können. Daher auch das besondere Verhältnis, das die französische Gesellschaft lange Zeit zu ihren Verfassungen pflegte: Sie wurden kaum verändert; sie wurden umgestoßen, durch plötzliche Bewegungen komplett ausgetauscht. Gerade weil die Verfassungen von bedeutender Symbolkraft waren, richtete sich die zu ihr gepflegte Beziehung nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Zweifelsohne ist auch die Verfassung der Vereinigten Staaten ein Text, der in der amerikanischen Mentalität als symbolisch wichtiger, ja geheiligter Text gilt. Allerdings ist der Text von 1787 erstaunlich stabil und im Wesentlichen pragmatisch durch Praxis und Interpretation verändert worden. Frankreich hingegen hat seit 1791 die Anwendung elf verschiedener Verfassungen erfahren, die zuweilen zudem durch radikale Verfassungsänderungen substanziell modifiziert wurden. Hinzu kommen mehrere niemals angewandte Texte und einige de facto-Regime, alles in allem etwa dreißig verschiedene politische Regime.[27]

Der Unterschied ist wohl darauf zurückzuführen, dass das Ursprungsereignis – eine Revolution, die in beiden Fällen die Bedeutung eines politischen Gründungsmythos erlangt hat – keine vergleichbaren Wirkungen gezeitigt hat. Wenngleich die Etablierung politischer Bundeseinrichtungen sich auch in den Vereinigten Staaten nicht ohne Widerstand und Schwierigkeiten vollzog, so hat die Verfassung in ihren ersten Jahren doch eine hinreichende Stabilisierung des Systems und die Überwindung der anfänglichen politischen Wechselfälle bewirken können. In Frankreich hingegen bleibt die erste Verfassung weniger als ein Jahr lang in Kraft, vom 3. September 1791 bis zum 10. August 1792, dem Tag, an dem Ludwig XVI. stürzt. Das tatsächlich revolutionäre Gründungsereignis in Frankreich war die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789; in institutioneller Hinsicht hat die Revolution weder 1791 (parlamentarische Monarchie), noch 1793–1794 (revolutionäre Regierung und Terrorregime), noch 1795 (erste angewandte republikanische Verfassung; sog. Direktorialregime, das mit dem Staatsstreich Bonapartes 1799 zusammenbricht) etwas Lebensfähiges und Dauerhaftes hinterlassen. Sie hat die französische Gesellschaft begründet, nicht jedoch den Staat als Institution.

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Von 1789 bis 1875 ist Frankreich ein großes Verfassungslaboratorium gewesen, in dem alle vorstellbaren institutionellen Kombinationen durchgespielt wurden: parlamentarische Monarchie (1791–1792), Republik mit strikter Gewaltenteilung (1795–1799; 1849–1851), „Cäsarismus“ und Dominanz der Exekutive nach bonapartistischen Modellen (1799–1814; 1851–1870), „konstitutionelle“ Monarchien (1814–1830; 1830–1848). Eine Verfassung hielt sich durchschnittlich etwa zehn Jahre.

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Die Verfassungsgesetze von 1875 stellten erstmals ein gleichermaßen dauerhaftes, republikanisches und parlamentarisches System her. Sie blieben in Kraft bis zur Niederlage der französischen Armee im Frühjahr 1940, dem Auftakt zur Errichtung des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht (1940–1944). Ihre Entstehung war langwierig und gestaltete sich schwierig. Die bereits im Februar 1871 gewählte verfassunggebende Nationalversammlung verabschiedete die drei Verfassungsgesetze erst zwischen Februar und Juni 1875. Es waren „republikanische“ Verfassungsgesetze, die jedoch zahlreiche monarchistische Vorkehrungen enthielten. In der Tat war die Nationalversammlung, die diese Gesetze verabschiedete, mehrheitlich von Monarchisten besetzt. Doch führte die Spaltung des monarchistischen Lagers am 30. Januar 1875 zur Annahme des republikanischen Prinzips mit einer Mehrheit von einer Stimme.[28] Diese republikanische Lösung hatte aus Sicht der Monarchisten allenfalls provisorischen Charakter und sollte lediglich bis zur erhofften Wiederherstellung der Monarchie fortbestehen. Hierdurch erklärt sich auch die Form dieser in drei verschiedene Gesetze gegossenen, extrem kurzen, jegliche „Rechteerklärung“ entbehrenden, unvollständigen und unzureichenden Verfassung.

Deren Anwendung sollte vom ersten Verfassungsstreit endgültig geprägt werden. Am 16. Mai 1877 brach zwischen dem Präsidenten der Republik und der Abgeordnetenkammer die Krise aus: Das Staatsoberhaupt zwang den Regierungschef, der das Vertrauen der Parlamentskammern genoss, zum Rücktritt. Die Abgeordnetenkammer hatte der neuen Regierung das Vertrauen verwehrt, woraufhin der Präsident mit der Auflösung reagierte. Das Lager des Staatschefs verlor die Wahlen und dieser war gezwungen, eine der Abgeordnetenkammer wohlgesonnene Regierung zu ernennen, um nach erneut zu seinen Ungunsten ausgefallenen Neuwahlen sein Amt schließlich niederzulegen. Mit dieser Krise fasst das parlamentarische Regime in der Dritten Republik insofern endgültig Fuß, als nunmehr jede Regierung das Vertrauen des Parlaments haben muss. Gleichzeitig bringt die Krise das Instrument der Parlamentsauflösung in Misskredit, dessen man sich bis ans Ende des Regimes nicht mehr bediente. Das Resultat ist ein aus dem Gleichgewicht geratenes System, in dem kein Gegengewicht zur Macht der Parlamentskammern existiert: Die Auflösung ist de facto unmöglich, die Akte des Parlaments, insbesondere die Gesetze, sind gegen jeglichen Einwand gefeit. Die Regierungen sind voll und ganz von den Parlamentskammern abhängig. Diese Situation verschlechtert sich dadurch, dass es dem indirekt gewählten Sénat gelingt, sich mit gleicher Macht zu behaupten wie die Nationalversammlung.

Die Instabilität grassierte: Erstreckte sie sich bis 1875 noch auf die Verfassungen, so fielen ihr bald die Regierungen zum Opfer. Besonders seit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts folgten die Regierungen in einem außerordentlich schnellen Rhythmus aufeinander. Eine Regierung hielt sich in der Dritten Republik durchschnittlich etwa sieben Monate. Die parlamentarische Republik wurde zu einem Regime der „parlamentarischen Souveränität“. Die Zahl der Abhandlungen über die Systemkrise nahm nach dem Ersten Weltkrieg um ein Vielfaches zu: „République des camarades“ (Robert de Jouvenel, 1914), „République des professeurs“ (Albert Thibaudet, 1927), „République des comités“ oder „des ducs“ (Daniel Halévy, 1934, 1937). Die Republik war als von der parlamentarischen Klasse beschlagnahmt verschrien. In den 1930er Jahren bestimmte die Réforme de l’État mehr denn je zuvor die Agenda der Intellektuellen, Politiker und Juristen. Zu letzteren gehörten Joseph Barthélémy[29], René Capitant[30], Marcel Prélot[31], Boris Mirkine-Guetzévitch, aber auch Raymond Carré de Malberg, der Professor aus Straßburg.[32] Das Ergebnis war ein „buntes“[33] und widersprüchliches Konglomerat von Betrachtungen über die Krise des parlamentarischen Regimes, wobei der kraftvolle Aufstieg autoritärer und totalitärer Systeme in Europa diesen Überlegungen besonders dringlichen Charakter verlieh.

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs veröffentlichte André Tardieu, seinerzeit einer der bedeutendsten Politiker, ein zweibändiges Pamphlet, das unter dem bezeichnenden Titel erschien: „La Révolution à refaire“[34]. Doch könnte dieser pointierte Titel noch durch die Aussage verschärft werden, dass die institutionelle Revolution noch gar nicht stattgefunden hatte, denn das Jahr 1789 hat Frankreich kein gangbares institutionelles Schema beschert, sondern stellte lediglich das Prinzip einer immer noch gegen die bestehenden Institutionen zu erkämpfenden Volkssouveränität auf.

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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die institutionelle Frage erneut gestellt. Das am 21. Oktober 1945 von der provisorischen Regierung unter General de Gaulle organisierte Referendum bot der nunmehr männlichen und weiblichen Wählerschaft die Alternative zwischen schlichter Rückkehr zu den Institutionen der Dritten Republik oder der Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Knapp 700 000 Wähler forderten die Wiederherstellung der ehemaligen Institutionen, während nahezu 20 Millionen eine neue Verfassung verlangten. Ein erstes Projekt vom 19. April 1946 wurde per Referendum am 5. Mai 1946 abgelehnt. Ein zweites Projekt wurde per Referendum am 13. Oktober 1946 angenommen und am 27. Oktober 1946 verkündet, der Geburtsstunde der Vierten Republik. Die Kernfrage hinsichtlich der Institutionen blieb weiterhin schwierig. Die Verfassung wurde von einer lediglich mäßigen Mehrheit befürwortet.[35] Sie verringerte in beträchtlichem Maße die Kompetenzen der zweiten Kammer, die nicht mehr offiziell Sénat, sondern Conseil de la République genannt wurde. Sie bemühte sich um die Einführung von Korrekturmechanismen für die parlamentarischen Institutionen, indem sie einerseits die Voraussetzungen modifizierte, unter denen die Regierung von der ersten Kammer, nunmehr „Nationalversammlung“ genannt, eingesetzt wurde. Andererseits modifizierte sie die Bedingungen, unter denen die Nationalversammlung einem Kabinett das Vertrauen entziehen konnte. Darüber hinaus bekräftigte sie im Grundsatz das Auflösungsrecht: Sofern innerhalb von 18 Monaten zwei Regierungen unter den in der Verfassung vorgesehenen Bedingungen gestürzt wurden, durfte die Exekutive die Nationalversammlung auflösen. Diese Mechanismen funktionierten nicht, zumal die Nationalversammlung sie unterlief und umging. Die Regierungen waren ebenso instabil wie in den Endjahren der Dritten Republik. Was zunächst als Rationalisierung des Parlamentarismus bezeichnet worden war, entpuppte sich kurzerhand als Fehlschlag. Die Einführung der Verhältniswahl zur Nationalversammlung verschlimmerte die Situation. Zweck der Reform des Wahlsystems im Jahr 1951 war denn auch weniger die Herstellung stabiler Mehrheiten als vielmehr die Blockierung von Parteien, insbesondere der kommunistischen oder gaullistischen, die dem gewöhnlichen Parlamentsgeschehen abträglich zu sein schienen. Eine Verfassungsänderung im Jahr 1954 hatte zur Folge, dass das institutionelle System der Vierten Republik dem der Dritten Republik im Wesentlichen angeglichen wurde. Offensichtlich verkörpern die parlamentarische Souveränität und die Instabilität der Regierungen das strukturelle Übel des französischen Parlamentarismus.

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Ein Grund für die strukturelle Schwierigkeit, stabile Regierungen im parlamentarischen Regime herzustellen ist wohl, ungeachtet der den Verfassungsmechanismen eigenen Vor- und Nachteile, auf manche Eigenarten des französischen Parteiensystems zurückzuführen. Das Zwei-Parteien-System nach englischem Vorbild hat niemals Fuß gefasst. Seit Albert Thibaudet, der schon 1932 sechs das französische Parteileben strukturierende politische Familien zählte,[36] ist es Usus, nicht nur die Vielparteienkonstante der französischen Politik zu betonen, sondern auch die Tiefe der Spaltungen, welche die Koalitionssysteme äußerst empfindlich machen: Die Bipolarität links/rechts spiegelt in keiner Weise die Divergenzen und Spannungen innerhalb dieser beiden großen Pole wider. Koalitionen rechter wie linker Parteien können sich nachhaltig nur mittels institutioneller Vorkehrungen halten, deren Wirkungen radikal sein müssen, um tatsächlich wirksam zu sein. Die Rationalisierung des Parlamentarismus konnte in der Vierten Republik mangels Radikalität nicht gelingen. Eine solche Radikalität ist charakteristisch für die Institutionen der Fünften Republik, deren Entwurf weitestgehend General de Gaulles Willen entsprang, dem – wie er es nannte – „Parteienregime“ ein Ende zu setzen. Der Preis hierfür war eine starke Relativierung des Parlamentarismus als Staatsform und des Parlaments als Institution.

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