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b) Zwischen demokratischem Cäsarismus und republikanischer Monarchie: die Fünfte Republik als autoritäre Republik

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Maurice Hauriou, eine der zentralen Gestalten der Wissenschaft des französischen öffentlichen Rechts im 20. Jahrhundert, stellte zwei Strömungen von Verfassungskonzeptionen gegenüber, welche die Schwankungen französischer Institutionen erklären sollten: eine ursprünglich revolutionäre, die Strömung der „parlamentarischen“ oder „konventionellen Regierung“; und eine „direktoriale, konsularische, imperiale, präsidentielle Strömung, die, gewissermaßen als Reaktion auf parlamentarische Regierungen, um die Stärkung der von der ehemaligen Monarchie vermachten Exekutive besorgt war und aus diesem Grund deren unmittelbare Unterstützung aus dem Volk mittels eines Plebiszits befürwortete.“[37] Ungeachtet gewisser Vereinfachungen beschreibt diese Darstellung recht gut, was heute „demokratischer Cäsarismus“ genannt wird und sich exemplarisch in den beiden bonapartistischen und napoleonischen Regimes (1799–1814 und 1851–1870) niedergeschlagen hat. Einige Grundzüge der Fünften Republik sind sicherlich den bonapartistischen Modellen entlehnt.[38]

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Wie die napoleonischen Regime ist die Fünfte Republik ursprünglich das institutionelle System einer kraftvollen Reaktion von Seiten der Exekutive. Das Ziel ist, die Exekutive handlungsfähig zu machen und sie so zur Staatsführung zu befähigen, dass sie von den Repräsentativversammlungen nicht behindert werden kann, zumindest nicht vollständig. Diese Restauration der Exekutive erfolgt, wie in den bonapartistischen Systemen, zugunsten eines mit großer Machtfülle ausgestatteten Staatschefs und nicht unmittelbar zugunsten der Regierung.

Diese institutionellen Übereinstimmungen entsprechen jedoch einer tieferen, von de Gaulle und Napoleon I. im Grunde geteilten Grundvorstellung. Jean-Jacques Chevallier hat die Grundvorstellung Napoleons zum Verfassungsproblem richtig skizziert.[39] Die Revolution brachte Individuen hervor, die von der alten Ordnung des Ancien Régime losgerissen waren. Hierdurch wurde die „organisierte Gesellschaft“ zur Masse, die nur noch vom Staat kanalisiert werden konnte.[40] Da eine Rückkehr zur alten Gesellschaft undenkbar ist, bleibt so für Napoleon nur eine Ordnung „von oben“ möglich. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine grundsätzliche Autonomie des Staates gegenüber der Gesellschaft. Die politische Dimension der Gesellschaft kann sich nur in „Vertrauen“ erschöpfen, die „Autorität“ muss in Händen des Staates bleiben. Vertrauen von unten, Autorität von oben, so lautet die von Sieyes formulierte Formel des „demokratischen“ Cäsarismus.[41] Selbstverständlich hat die Umsetzung dieser Maxime eine Entleerung des Souveränitätsbegriffs zur Folge: Volkssouveränität beschränkt sich nunmehr darauf, dass der Staat auf das Volksvertrauen angewiesen ist, um dieses vertrauensvolle Volk hiernach autonom zu regieren.

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Diese Entwicklung zeichnet drei Grundzüge vor, die sich parallel in Napoleons Verfassungswerk, aber auch in den Verfassungen von 1851 und 1958 finden. Auffallend ähnlich ist erstens die Methodik der Verfassunggebung. In einer mehr oder weniger provozierten Krisensituation arbeitet sich ein starker Mann unverhofft an die Spitze der Exekutive, um von dort aus einen raschen Verfassunggebungsprozess in Gang zu setzen und zu steuern. Im Wesentlichen ist der Verfassungstext das Werk der Exekutive und ihres Umfeldes. Der Staat konzentriert sich im entscheidenden Moment der Verfassunggebung ganz in der Exekutive und konstituiert sich selbst. 1799, 1851 und 1958 vollzogen sich drei ihrem Wesen nach gleichartige Prozesse, die in eine Selbstproduktion des Staates einmündeten. Ausschlaggebend ist in allen drei Fällen der völlige Ausschluss parlamentarischer Instanzen aus dem Verfassunggebungsverfahren. Die Nation wird zur Mitgestaltung ihres künftigen Staats nicht vorgeladen. Alle Beratungen finden unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Aufgabe der Nation erschöpft sich in „Vertrauensgebung“, in einem bestätigenden Plebiszit, mit dessen Hilfe das Werk von oben sich von unten absegnen lässt.[42]

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Konsequenterweise wird in der Systematik des Verfassungswerkes die starke Stellung der Exekutive hervorgehoben. Die Exekutive ist um ihr Haupt vereinigt und handelt unter dem Zeichen der Einheit. Anders das Parlament, das in erster Linie Vertreter der Gesellschaft ist – der Gesellschaft in ihrer Pluralität und ihren Konflikten, Spaltungen und Spannungen, Teilungen und Schwungkräften. Das Parlament ist Schauplatz der Fraktionen und der raschen Meinungswechsel, wohingegen der Staat auf Einheit und Kontinuität angewiesen ist. Er ist nicht in erster Linie Bürge eines Ausgleichs kollidierender Privatinteressen, sondern Bauträger eines transzendentalen Allgemeininteresses. Das intérêt général an sich, als abstraktes Ideal, ungeachtet seiner konkreten Bestimmungen, bleibt das grundlegende Legitimationsmuster des Staates und der Staatstätigkeit. Im intérêt général hebt sich das individuelle Interesse im Hegelschen Sinne zugunsten des Universalen auf. In der Tat hat der „französische Geist“ – nicht nur bei und durch Rousseau – diese Ideologie nachhaltig geprägt, denn sie gehört konstitutiv der französischen Staatsgeschichte an.[43] Cäsarismus im Sinne Bonapartes und de Gaulles zielt darauf, die Wahrung staatlicher Einheit und Kontinuität grundsätzlich der Exekutive zu überantworten. Das Parlamentarische im Staat leistet nur noch eine am Horizont der Moderne unerlässliche demokratische Bürgschaft.

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Aus diesen Prämissen folgt nunmehr, dass die Exekutive im von der Verfassung normierten Gewaltenteilungssystem eine starke Autonomie gegenüber dem Parlament genießen muss. Konsulat und Erbkaisertum waren die bonapartistischen Reaktionen auf dieses Erfordernis. Derartige Lösungen kamen 1958 selbstverständlich nicht mehr in Frage. Immerhin stand der Präsident der Fünften Republik nicht beim Parlament in der Pflicht, da dieses nicht mehr als Legitimationsinstanz des Staatschefs fungieren durfte. Damit war der Bruch mit der Tradition der Dritten und Vierten Republik vollzogen. Wenngleich die direkte Volkswahl des Präsidenten erst 1962 eingeführt wurde, so war die parlamentarische Wahl des Staatschefs doch seit 1958 abgeschafft, da die Entscheidung in den Händen von etwa 80 000 Wahlmännern lag.[44] Wenn aber die Exekutive vor dem Parlament gerettet werden sollte, so war es notwendig, auch die Autonomie der Regierung zu bewahren. Hierzu war ein Kompromiss erforderlich, da das Prinzip der parlamentarischen Verantwortung der Regierung nicht verhandlungsfähig war.[45] Zwar ist die Regierung dem Präsidenten und der Nationalversammlung gleichermaßen verantwortlich, doch muss sie, nach einem bekannten Ausdruck von de Gaulle, „vom Präsidenten hervorgehen“ (procéder du Président). In der berühmten Pressekonferenz vom 31. Januar 1964 behauptet der Gründer der Fünften Republik sogar eine „Vorrangstellung“ (primauté) des Staatschefs vor allen anderen Institutionen, das Parlament eingeschlossen.[46] Dieses gaullistische Schema wurde erst durch die so genannte Cohabitation in Frage gestellt, also die Konstellation einer parlamentarischen Mehrheit, die sich nicht aus dem politischen Lager des Präsidenten zusammensetzt.

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Das gaullistische Verfassungskonzept, das 1958 umgesetzt wurde, ist weitgehend von diesen cäsaristischen Zügen gezeichnet. Doch konnte dies nicht offen eingestanden werden, da der Bonapartismus als Diktatur in Misskredit gebracht war. So radikal wie die Verfassungen der Jahre 1799 und 1852 war das neue Grundgesetz von 1958 auch nicht. Obgleich stark geschwächt, stellte das Parlament immerhin ein relativ effizientes Gegengewicht zum Präsidenten dar. Auszugehen ist deshalb von bonapartistischen Zügen der Verfassung von 1958.

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Eine monarchische Prägung wird der Fünften Republik nicht selten unter Berufung auf de Gaulles eigene Weltanschauung unterstellt. In seinen jungen Jahren galt de Gaulle als Monarchist und als der Action Française und deren Hauptideologen Maurras nahe stehend.[47] Dies muss aber nuanciert betrachtet werden,[48] ebenso die so genannte monarchische „Inspiration“, die angeblich die Institutionen der Verfassung von 1958 „tief“ beeinflusst hat.[49] Im Allgemeinen werden zur Rechtfertigung eines monarchistischen Erbes der Fünften Republik zwei Charakteristika angeführt: einerseits die besonders lange Dauer des Präsidentenmandats, andererseits die Übernahme doppelter politischer Verantwortung durch die Regierung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Septennats-Prinzip ein (parodoxes) monarchistisches Relikt darstellt. Eingeführt wurde das Prinzip im Rahmen der Beratungen zu den Verfassungsgesetzen der Dritten Republik durch das Gesetz vom 20. November 1873, das General de Mac-Mahon die vollziehende Gewalt ad hominem für eine Dauer von sieben Jahren anvertraute. Zwar wurde diese Entscheidung von einer monarchistischen Mehrheit getroffen, doch war sie umstandsbedingt: Das Septennat erschien als einzige Möglichkeit, sich die für eine Stabilisierung erforderliche Zeit zu verschaffen und somit die Wiederherstellung des monarchischen Regimes zu ermöglichen.[50] Die Verfassungsgesetze der Dritten Republik machten eine unter besonderen Umständen entstandene Regel zur ständigen Einrichtung, die sich bis in die Vierte Republik aufrechterhalten konnte. Allerdings war diese Regel recht harmlos, da der Staatschef im Wesentlichen symbolische Aufgaben übernahm. Zu Beginn der Fünften Republik erfuhr die Regelung einen eindeutigen Bedeutungswandel, zumal sie einem ohnehin mächtigen Staatschef zusätzliche Macht verlieh.

Der andere monarchistische Grundzug des Regimes liegt wohl im Phänomen der doppelten Verantwortung der Regierung. Wenngleich die Regierung auch in der Fünften Republik der Nationalversammlung verantwortlich bleibt, so muss sie gleichermaßen im Vertrauen des Präsidenten stehen. Diese zweite Regel ist freilich nicht im Verfassungstext aufgeführt. Im Gegenteil, der Präsident verfügt über kein rechtliches Instrument, mit dem er den Rücktritt des Premierministers erzwingen könnte. Doch ist es in der Praxis Usus, dass der Premierminister auf Ersuchen des Präsidenten seinen Rücktritt einreicht. Angeblich ließ de Gaulle seine Premierminister bei ihrer Ernennung vorsichtshalber sogar undatierte Rücktrittserklärungen unterzeichnen. Die Regierung muss demnach sowohl das Vertrauen des Präsidenten als auch das Vertrauen des Parlaments genießen. Dieses Prinzip entspricht der Praxis in der Julimonarchie (1830–1848) und wird gemeinhin als „dualistischer“ oder „orleanistischer“ Parlamentarismus qualifiziert.[51] Im Falle der Cohabitation greift das Prinzip allerdings nicht (unten Rn. 35).

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Insgesamt scheint der monarchistische Einfluss auf die Fünfte Republik weitaus weniger prägend als der bonapartistische und cäsaristische Einfluss. Die Fünfte Republik knüpft zum einen an eine „Mystik des Chefs“ an, die eindeutig von autoritären Zügen gezeichnet ist.[52] Zum anderen beruht sie auf einer „Mystik der Republik“, die in ihren Grundsätzen mit einem gewissen Autoritarismus nicht unvereinbar ist, denn es geht darum, die Republik als „eine“, „unteilbare“, „laizistische“, „demokratische“ und „soziale“ zu zelebrieren. Im Kern ist der französische Republikanismus keineswegs liberal. Man kann deshalb sagen, dass die Fünfte Republik als sonderbare Synthese von Elementen der gesamten französischen Verfassungstradition seit 1789 in der Absicht seines Gründervaters eine autoritäre Republik begründen sollte.

§ 2 Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Frankreich › I. Ursprung und Entstehung des Verfassungssystems der Fünften Republik › 3. Die besonderen Voraussetzungen der Ausübung verfassunggebender Gewalt im Jahre 1958

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