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b) Das fragwürdige Verfahren gemäß Art. 11 der Verfassung

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Als General de Gaulle im Jahr 1962 die Veränderung des Präsidialwahlsystems in Angriff nimmt, beschließt er, Art. 89 CF zu umgehen, der die Übereinkunft der Parlamentskammern voraussetzt. Hierzu greift er auf das von Art. 11 CF vorgesehene Verfahren zurück: Auf Vorschlag der Regierung kann der Staatschef „jede die Organisation der öffentlichen Gewalt betreffende Gesetzesvorlage“ im Rahmen eines Referendums dem Volk unterbreiten. Zwar betrifft der Präsidialwahlmodus zweifelsohne die „Organisation der öffentlichen Gewalt“, doch ist hierzu eine formelle Veränderung des Verfassungstexts erforderlich, was ordnungsgemäß nur auf Grundlage des Art. 89 CF geschehen kann, der seinerseits die Möglichkeit des Referendums vorsieht. Die Entscheidung, auf Art. 11 CF zurückzugreifen, um den Verfassungstext zu ändern, war ein deutliches Zeichen dafür, wie die Exekutive das Parlament nun gering schätzen konnte, und war – beraubt man die besondere Vorschrift aus Art. 89 CF nicht ihres Zwecks – ein verfassungswidriger Akt.[113]

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Nach dem erfolgreichen Referendum vom 28. Oktober 1962 wurde der Conseil constitutionnel vom Senatspräsidenten mit dem Gesuch angerufen, das Gesetz für verfassungswidrig zu erklären. In seiner berühmten Entscheidung vom 6. November 1962 verkündet der Conseil constitutionnel jedoch, er sei für ein solches Gesuch nicht zuständig. Art. 61 CF überantworte dem Conseil ohne genauere Angaben die Aufgabe, die Verfassungsmäßigkeit von „Gesetzen“ zu beurteilen. Doch ergebe sich laut Conseil constitutionnel aus dem „Geist der Verfassung“, dass diese Gesetze ausschließlich parlamentarische seien und nicht etwa „solche, die vom Volk im Rahmen eines Referendums angenommen werden und insofern die nationale Souveränität unmittelbar zum Ausdruck bringen“[114]. Die Begründung des Conseil constitutionnel hat zur Folge, dass alle Referendumsgesetze seiner Zuständigkeit entzogen sind.[115] Kritisch zu hinterfragen ist die Begründung vor allem deshalb, weil sie auf einer vereinfachten Vorstellung beruht, der zufolge das „Volk“ bei Durchführung des Referendums unmittelbar anwesend sei, als wäre die Wählerschaft das „Volk“ und als wäre das Referendum nicht ein komplexes Verfahrenskonstrukt, das dem „Volk“ ermögliche, durch die Wählerschaft eine Entscheidung unter Einwirkung des Rechts zu treffen. Das Urteil ist Teil einer Mythologie der Volkssouveränität, die in Frankreich im Grunde seit der Revolution gepflegt wird.

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General de Gaulle hat ein zweites Mal auf das von Art. 11 CF vorgesehene Referendum zurückgegriffen, um eine Verfassungsreform in die Wege zu leiten. Das Referendum vom 27. April 1969 stellte sich als Fehlschlag heraus und hatte de Gaulles sofortigen Rücktritt von seinem Amt zur Folge. Die bisweilen vertretene Ansicht, wonach diese beiden Erfahrungen einen Verfassungsbrauch hervorgebracht hätten, der die Anwendung des Art. 11 CF zu Zwecken der Verfassungsänderung gestatten würde, scheint nicht haltbar. Zum einen gibt es nur zwei Präzedenzfälle, zum anderen stimmen die beiden Fälle nicht überein; schließlich setzt oben genannte Ansicht auch die Möglichkeit voraus, dass sich Verfassungsgewohnheitsrecht contra constitutionem herausbildet. Aus diesem Grund ist es wohl richtig, sich mit der Feststellung zu begnügen, dass der Conseil constitutionnel nach gegenwärtiger Rechtsprechungslage den Weg zu verfassungswidrigen Verfassungsänderungen offen lässt.

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