Читать книгу Handbuch Ius Publicum Europaeum - Martin Loughlin - Страница 92

b) Die Machtergreifung de Gaulles und die Umgestaltung des Verfassungsänderungsverfahrens

Оглавление

20

Am 1. Juni 1958 wurde General de Gaulle auf Vorschlag des Präsidenten der Republik, René Coty, von der Nationalversammlung zum Regierungschef gewählt.[62] Die Vorstellung des Regierungsprogramms vor den Abgeordneten fiel äußerst knapp aus und lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen: eine unbeschränkte Generalvollmacht der Regierung zur Erledigung der algerischen Krise und eine „Verfassungsreform“[63]. Dass diese so genannte Verfassungsreform die Ausarbeitung einer völlig neuen Verfassung nach sich ziehen sollte, war unschwer vorhersehbar.[64] Schon in seiner berühmten Rede in Bayeux vom 16. April 1946 hatte de Gaulle das Modell der Verfassung von 1946 vehement abgelehnt.[65] Zur Umsetzung des Regierungsprogramms wurden zwei Gesetze verabschiedet. Das Ermächtigungsgesetz vom 3. Juni übertrug der Regierung für sechs Monate die Gesetzgebungsgewalt, woraufhin die Regierung per Verordnung alle „zur Wiedererstarkung der Nation notwendigen Maßnahmen“ ergreifen durfte. Das Verfassungsgesetz vom 3. Juni änderte das in Art. 90 der Verfassung von 1946 vorgesehene Verfassungsänderungsverfahren,[66] sodass die Verfassunggebung die Form einer Verfassungsänderung annahm.

21

Allerdings zielte das Verfassungsgesetz auf eine Verfassungsdurchbrechung, was sich vor allem darin niederschlug, dass von den Bestimmungen des Art. 90 abgewichen wurde.[67] Die Regierung wurde ermächtigt, ein Gesetz zur Änderung der Verfassung vorzuschlagen, über das per Referendum abgestimmt werden sollte. Das Parlament als solches war aus dem Verfahren jedoch völlig ausgeblendet. Statt einer parlamentarischen Zustimmung musste die Regierung nur die Stellungnahme eines beratenden Komitees (Comité consultatif constitutionnel) sowie des Staatsrates (Conseil d’État) einholen. Dem ad hoc beratenden Komitee mussten einige Parlamentsmitglieder angehören. Schließlich beinhaltete der Entwurf der Exekutive einige materiellrechtliche Vorgaben: gesetzgebende und vollziehende Gewalt mussten direkt oder indirekt vom Volk ausgehen und weiterhin getrennt bleiben; die Regierung musste dem Parlament verantwortlich und die Rechtsprechung unabhängig sein. Kurz: Die Republik sollte weiterhin ein demokratischer Rechtsstaat bleiben. Doch waren diese Prinzipien unbestimmt genug, um der Regierung einen weiten Gestaltungsspielraum zu überlassen.

22

Über diese technischen Angaben hinaus sei betont, dass in dem so konzipierten Verfassungsänderungs- bzw. Verfassunggebungsverfahren alle Instanzen und Mechanismen der parlamentarischen Demokratie ausgeschlossen wurden. Nach de Gaulles Auffassung durfte die neue Verfassung in keinem Fall das Werk der Parteien sein. In dem damaligen Krisenzustand konnte eine (sakrosankte) Verfassung nicht aus einigen, gleich ob „echten“ oder lediglich „dilatorischen“ Kompromissen gebastelt werden, sondern musste einer Grundsatzentscheidung zur politischen Form der Nation entspringen.[68] Das Pathos der Entscheidung prägte durch und durch den gaullistischen Diskurs. Die Autorität kam wieder „von oben“, das Vertrauen durch Volksabstimmung „von unten“.

Handbuch Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх