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bb) Die Regierung

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Die Regierung ist das kollegiale Exekutivorgan.[133] Das der Regierung zugrunde liegende Kollegialsystem ist eines der grundlegenden Verfassungsprinzipien. Als Kollegialorgan handelt die Regierung durch den wöchentlich tagenden „Ministerrat“ und ist der Nationalversammlung gegenüber verantwortlich. Die Regierung ist ein unter die Person des Premierministers vereintes Kollegium, dessen Tätigkeit vom Premierminister geleitet wird (Art. 21 Abs. 1 CF). Die Amtsniederlegung des Premierministers hat unweigerlich die Auflösung der gesamten Regierung zur Folge. Auch kann der Premierminister dem Staatschef formell nicht seinen Rücktritt erklären, sondern ausschließlich den seiner Regierung (Art. 8 Abs. 1 Satz 2 CF). Ein Ziel des Verfassunggebers von 1958 war insbesondere die globale Stärkung der Exekutive und die Sicherstellung der Leitungsfunktion des Premierministers gegenüber seiner Regierung (Art. 21 CF).

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Die dem Staatschef untergeordnete Stellung lässt sich auf den in Art. 8 Abs. 1 Satz 1 CF geregelten Ernennungsmodus zurückführen, dem zufolge der Regierungschef vom Staatspräsidenten ernannt wird. Allein der präsidentielle Ernennungsakt stattet den neuen Premierminister mit seinen verfassungsrechtlich garantierten Befugnissen aus. Noch in der Vierten Republik wies ausschließlich das zustimmende Votum der Nationalversammlung dem Regierungschef und seiner Regierung die jeweiligen Kompetenztitel zu, wobei der Staatschef den Kandidaten für das Amt „designieren“, also einen Vorschlag vor der Parlamentskammer einbringen konnte. Das Wort „ernennen“ in Art. 8 CF lässt einen deutlichen Bruch mit dem alten System erkennen. Gemäß Art. 19 CF ist der präsidentielle Ernennungsakt von einer Gegenzeichnung entbunden – ein weiterer Beleg dafür, dass der Regierungschef in der Fünften Republik vom Staatschef „hervorgeht“.

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Auch die Regierungsmitglieder selbst werden auf Vorschlag des Premierministers und durch vom Premierminister gegengezeichneten Beschluss des Präsidenten der Republik ernannt (Art. 8 Abs. 2 i.V.m. Art. 19 CF). Auf diese Weise erfolgt die Regierungsbildung zumindest formell unter doppelter Gewalt – der des Präsidenten und des Premierministers. Regierungsmitglieder sind Minister (von denen einige den protokollarischen Ehrentitel „Staatsminister“ tragen), aber auch „Staatssekretäre“. Letztere sind zwar Regierungsmitglieder, doch nehmen sie einem wohletablierten Brauch nach nicht von Rechts wegen, sondern nur auf ausdrückliche Einladung des Staatschefs hin an den Sitzungen des Ministerrates teil. Insofern sind die Staatssekretäre Minister zweiten Ranges und in der Regel von einem vollamtlich tätigen Minister abhängig.

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Wenngleich aus dem Wortlaut des Art. 8 CF eindeutig hervorgeht, dass die Regierungsbildung nicht von der Zustimmung der Nationalversammlung abhängt, so wäre es doch vertretbar gewesen, der Nationalversammlung unverzüglich nach Ernennung der Regierung die Vertrauensfrage mit Blick auf die Legitimität dieser Regierung zu stellen.[134] Die sehr bald verfolgte Praxis (seit 1962) hat anders entschieden: Die Vertrauensfrage beruht in jedem Fall auf einer im Ermessensspielraum des Ministerrats stehenden Entscheidung. Allerdings kann die parlamentarische Opposition, wenn die neu ernannte Regierung der Nationalversammlung die Vertrauensfrage nicht stellt, selbst einen Misstrauensantrag stellen, dessen Annahme mit absoluter Mehrheit der Parlamentsmitglieder die Regierung zum Rücktritt verpflichtet (Art. 49 Abs. 2 i.V.m. Art. 50 CF). Ungeachtet der Brüche gegenüber der vormaligen parlamentarischen Praxis, mit denen die Gründung der Fünften Republik einherging, ergibt sich hieraus, dass es dem Staatschef unmöglich ist, eine Regierung zu bestimmen, die von der parlamentarischen Mehrheit zurückgewiesen würde. Bedenkt man die Tatsache, dass einer der wesentlichen Charakterzüge des parlamentarischen Regimes darin liegt, dass die Regierung das Vertrauen der wichtigsten Kammer haben muss oder zumindest nicht auf deren Misstrauen stoßen darf, so ist das Regime der Fünften Republik wohl doch als „parlamentarisches Regime“ zu qualifizieren. Allein diese Betrachtungsweise vermag die Cohabitation zu erklären: Wie „präsidentiell“ das System auch sein mag, der Staatschef kann mit einer der Mehrheit des Unterhauses entgegenstehenden Regierung den Staat weder führen noch regieren.

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Im Gegenzug läuft die in Art. 23 CF normierte Regel, der zufolge die Regierungsmitgliedschaft mit der Ausübung jeglichen parlamentarischen Mandats inkompatibel ist, völlig der parlamentarischen Tradition Frankreichs zuwider. Ein in die Regierung berufenes Parlamentsmitglied muss, sofern es seine Ernennung annimmt, von seinem Mandat zurücktreten. Nach Ausscheiden aus der Exekutive muss der Betroffene wiedergewählt werden, um seinen Sitz im Parlament zurückzuerlangen. Die Trennung von Regierungsmitgliedschaft und parlamentarischem Mandat geht mit einer strikten Trennung der Organe einher. Im Geiste des Verfassunggebers von 1958 kam dieser Inkompatibilitätsregel beträchtliche Bedeutung zu, zumal sie der Bequemlichkeit ein Ende setzen sollte, die ihren Teil zur Instabilität der Regierungen in den vorangegangenen Republiken beigetragen hatte: Der ständige Wechsel der Minister zog keine unabänderlichen Einbußen für die politischen Karrieren der jeweils Betroffenen nach sich, da ihnen zumindest das Mandat im Parlament erhalten blieb, ganz gleich welches Schicksal sie in den Ministerien ereilte.[135]

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Nach mehreren Skandalen wurde das Regime der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern durch das Verfassungsgesetz vom 27. Juli 1993 grundlegend verändert. Im Grundsatz wurde die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Minister für die in Ausübung ihres Amtes unternommenen Handlungen aufrechterhalten, zumindest wenn diese Handlungen sich als Verbrechen oder Vergehen qualifizieren lassen. Allerdings befindet über solche Sachverhalte nun nicht mehr die Haute Cour in einem Verfahren, das in ähnlicher Weise bei Hochverrat des Präsidenten eingeleitet wird, sondern ein Sondergericht, namentlich der aus Parlamentsmitgliedern und Berufsrichtern zusammengesetzte „Gerichtshof der Republik“ (Cour de justice de la République).[136] Die Anklage ist nicht mehr Gegenstand einer parlamentarischen Abstimmung, sondern wird vom Generalstaatsanwalt nach Zustimmung einer Richterkommission vor dem Kassationshof erhoben. Das alte, den Regierungsmitgliedern de facto Straflosigkeit garantierende System wurde durch ein neues ersetzt, dessen Funktionsfähigkeit sich schon mehrmals gezeigt hat.[137]

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