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bb) Die Rationalisierung der parlamentarischen Mechanismen

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Die Instabilität der Regierungen in der Dritten und der Vierten Republik ist nicht nur auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Regierungen durch einfache, allzu oft destruktive Koalitionen darstellende Mehrheiten de facto gestürzt werden konnten, sondern auch auf die Unfähigkeit der Regierung, vom Auflösungsrecht Gebrauch zu machen, das von der öffentlichen Meinung als monarchisches und autoritäres Relikt aufgefasst wurde (oben Rn. 6). Zwischen 1877 und 1958 konnte das Unterhaus lediglich einmal im Jahr 1955 aufgelöst werden. Das zur Herstellung des institutionellen Gleichgewichts erforderliche Gleichgewicht der Waffen konnte sich niemals entwickeln.

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Art. 49 CF, insbesondere Abs. 3, gilt zu Recht als das die Stabilität der Regierungen seit 1958 sichernde Herzstück. Einerseits kann die Opposition die Regierung nur über die Annahme eines Misstrauensantrags durch die absolute Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung stürzen. Diese Regelung existierte schon in der Vierten Republik, doch wurde sie seinerzeit insofern umgangen, als man über eine feinsinnig berechnende Enthaltung der Regierung zu verstehen geben konnte, dass sie nur von einer Minderheit gestützt wurde, ohne jedoch die schicksalhafte Grenze der absoluten Mehrheit zu erreichen. Diese Berechnung notwendiger Enthaltungen ist nunmehr unmöglich, da allein die für den Misstrauensantrag abgegebenen Stimmen gezählt werden (Art. 49 Abs. 2 CF). Mit anderen Worten, die Verfassung führt eine zugunsten der Regierung wirkende Fiktion ein, der zufolge jedes Mitglied der Nationalversammlung, das sich nicht ausdrücklich gegen die Regierung ausgesprochen hat, als mutmaßlich für sie gezählt wird. Wenngleich dieses Vorgehen – im Unterschied zum konstruktiven Misstrauensvotum in Deutschland – den Sturz der Regierung nicht mit Wahlen eines neuen Regierungschefs kombiniert, so erfordert es doch eine klare Mehrheit zu Ungunsten der gegenwärtigen Regierung. Allerdings könnte allein diese Vorschrift die Stabilität der Regierungen nicht hinreichend sicherstellen, da sie unterlaufen werden könnte, indem eine Koalition der Nationalversammlung den Misstrauensantrag formell ablehnt, im Gegenzug die wichtigen Gesetzesvorlagen der Regierung und insbesondere deren Budget zurückweist und die Regierung hierdurch regierungsunfähig macht. Die für die Stabilität der Regierungen entscheidende Vorschrift ist in Art. 49 Abs. 3 normiert: Die Regierung kann in der Nationalversammlung die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über eine Gesetzesvorlage, sogar eines Haushaltsgesetzes, verbinden. In diesem Falle obliegt es der Opposition, mit einem Misstrauensantrag zu reagieren, deren Annahmevoraussetzungen den soeben erwähnten entsprechen. Wird der Misstrauensantrag nicht gestellt oder nicht angenommen, so gilt die Vorlage als von der Nationalversammlung angenommen. Auf diese Weise hat die Regierung während der Diskussion einer Vorlage die Möglichkeit, den Gegenstand der Diskussion insofern radikal zu verändern, als sie die Frage nach der Annahme der Vorlage durch die Frage nach ihrer eigenen Existenz ersetzen kann. In diesem Falle werden die Beratungen der Vorlage beendet und der Regierungsvorschlag, gegebenenfalls mit einigen von der Regierung akzeptierten Veränderungen, angenommen. Dieses Verfahren ist im Senat nicht anwendbar, doch da die Regierung von der Nationalversammlung verlangen kann, alleine zu entscheiden (oben Rn. 62), ist die Regierung dazu imstande, über die beliebig oft wiederholbare Anwendung des Art. 49 Abs. 3 CF die Annahme der Vorlage durch die Nationalversammlung endgültig zu erzwingen.[171]

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Ein weiterer Aspekt der Rationalisierung parlamentarischer Mechanismen liegt in der Wiederherstellung des Auflösungsrechts (Art. 12 CF), das dem Präsidenten der Republik zusteht. Diese Entscheidung steht im Ermessen des Präsidenten und unterliegt lediglich zwei Voraussetzungen. Die erste Voraussetzung ist rein formeller Natur und kann den Ermessensspielraum des Präsidenten nicht einschränken, da sie lediglich in einer Beratung mit dem Premierminister und den Präsidenten der beiden Parlamentskammern besteht. Die zweite besteht in einer dem repräsentativen Regime gewährten Garantie, die dem Präsidenten verbietet, die Nationalversammlung in dem auf die Wahl folgenden Jahr erneut aufzulösen (Art. 12 Abs. 4). Diese Garantie ist juristische Übersetzung des politischen Prinzips, das Léon Gambetta anlässlich der Krise vom 16. Mai 1877 (oben Rn. 6) angeführt hatte: „Auflösung auf Auflösung gilt nicht.“

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