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b) Die dezentralisierte Republik

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Der Zentralismus ist unbestritten eine französische Tradition, und die Revolution verstärkte sogar noch diesen bis ins Ancien Régime zurückreichenden Brauch. Schon die Verfassungen von 1793, 1795, 1799 und 1848 proklamierten die Republik als „eine und unteilbare“[191]. Demzufolge konnte der Staat nur als Einheitsstaat konzipiert und konstituiert werden. Die Formel der Verfassung von 1946 wurde in die Verfassung von 1958 übernommen: „Frankreich ist eine unteilbare Republik“ (Art. 1 Satz 1 CF).[192] Demgegenüber fügte das Verfassungsänderungsgesetz vom 28. März 2003 Art. 1 CF einen letzten Satz hinzu: „Ihre Organisation [i.e. der Republik] ist dezentralisiert.“[193] Die Dezentralisierung ist freilich kein neues Phänomen;[194] schon die Julimonarchie hatte einige Schritte in Richtung der „lokalen Freiheiten“ unternommen. Auch in der Dritten Republik wurde durch das Gesetz vom 10. August 1871 zur Verfassung der Départements (der sog. Charte des Départements) sowie durch das Gesetz vom 5. April 1884 zur kommunalen Verfassung recht schnell eine genuine Dezentralisierung in die Wege geleitet. Trotz mehrerer Veränderungen blieben die Grundprinzipien dieser beiden Gesetze bis 1982 in Kraft.

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Das Gesetz vom 2. März 1982 und einige im folgenden Jahr verabschiedete Gesetze hatten eine Umgestaltung der lokalen Verwaltung zum Gegenstand. Die Staatsaufsicht wurde stark gelockert, die Regionen als Gebietskörperschaften (collectivités territoriales) errichtet.[195] Des Weiteren wurde die Exekutive der Départements und Regionen nun nicht mehr dem Préfet als lokalem Staatsvertreter, sondern einem vom jeweiligen Rat gewählten Präsidenten anvertraut. Nicht zuletzt wurden die Kompetenzen der Gebietskörperschaften insgesamt stark ausgeweitet, um die Autonomie der Gemeinden, Départements und Regionen zu sichern. Zu Recht gilt diese Reform als Markstein des Dezentralisierungsprozesses in Frankreich.

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Mit der 2003 verabschiedeten Reform hat der Begriff der Dezentralisierung erstmals Eingang in einen französischen Verfassungstext gefunden (Art. 72ff. CF). Allerdings setzt die Verfassungsänderung von 2003 eine subtile Unterscheidung voraus: Die Republik als politischer Körper ist und bleibt „unteilbar“, ihre Verwaltungsorganisation ist jedoch dezentralisiert. Auch ersteres trifft nur bedingt zu, da manche Gebiete in Übersee, auch in internationalen Angelegenheiten, tatsächlich über politische Entscheidungskompetenzen verfügen. Im Hinblick auf diese überseeischen Verhältnisse wurde schon 1982 die Frage aufgeworfen, ob Frankreich unbewusst nicht eine Föderation sei.[196] Der 1998 oktroyierte Verfassungsstatus Neukaledoniens setzte noch Akzente in Bezug auf diese Pluralisierung des französischen Staats. Kurz: Die Verfassungsnovelle von 2003 garantiert den Gebietskörperschaften Normsetzungsbefugnisse, eröffnet ihnen unter strengen Voraussetzungen die Möglichkeit zur Abweichung von manchen Gesetzesbestimmungen, führt das Subsidiaritätsprinzip ein, ermöglicht das lokale Referendum und legt die Grundsätze der finanziellen Beziehungen zwischen Staat und Gebietskörperschaften fest.

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