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Km 6

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Der neue Laufsteg ist die Strecke

Was Modebewußtsein betrifft, stehen Männer den Frauen in nichts mehr nach – sofern man ihnen einen plausiblen Vorwand gibt, es offen auszuleben. Sport ist ein sehr plausibler Vorwand. Geht es gar um Wettkampfbekleidung, kann uns nur das Neueste und Teuerste gut genug sein. Schließlich ist es atmungsaktiver oder windabweisender als alles andre, wird unsre Leistung also steigern. Da darf’s nebenbei gern auch ein bißchen gut aussehen. Oder umgekehrt?

Einen Monat vor jedem Marathon sichtet Seb seine Laufklamotten und findet, daß er (unter Dutzenden an Hemden, Hosen) nichts, absolut nichts hat, das er an diesem besonderen Tag tragen könnte. Vor allem auch deshalb nicht, weil er nicht auf jedem Marathonphoto mit der gleichen Ausrüstung auflaufen möchte: Ein bißchen eitel dürfe man doch auch als Mann sein? Ob wir uns nicht mal zum Powershoppen verabreden sollten?

Mit der Betonung der technischen Aspekte von Rennbekleidung – so die übereinstimmenden Auskünfte der Sportverkäufer – hat man auch die Männer zu sogenannten Fashion Victims gemacht. Und sind die Teile partout nicht mehr als noch leichter oder wetterfester zu verkaufen, entdeckt die Industrie eben als nächstes ihren »erhöhten Regenerationswert« – darauf muß man erst mal kommen! – und treibt uns mit diesem schwer nachprüfbaren Versprechen zunächst zum Kauf von Kompressionsstrümpfen (2011/12), dann über Kompressionsstutzen und -hosen (2012/13) zu Kompressionshemden und -armstulpen (2013/14), demnächst wahrscheinlich auch zu Ganzkörperkompressionsstrampelanzügen oder Kompressionswindeln.

Ob mit, ob ohne Kompression, in jedem Fall muß die Wettkampfkleidung eng am Körper anliegen, dem simplen Credo gemäß: eng = aerodynamisch = schneller. Da stoßen die Gschamigeren unter uns auch schon mal an ihre Grenzen, spätestens bei »Tanktops«, die gerade eben noch Muskelshirts und früher Leibchen hießen, oder bei »Tights«, die früher Radlerhosen hießen. Nicht wenige tragen Tights zwar im Winter als eine Art Leggings, darüber aber zusätzlich Funktionsshorts, die früher Bermudashorts hießen. Der optische Effekt ist umstritten. Onkel, der besonders kritisch bei sich und andern auf Fettröllchen an der Hüfte achtet, ist auf seine Weise noch gschamiger: Ein Läufer brauche zwei Sets, meint er, einen figurbetonten, wenn er in Form ist und die Figur dazu auch tatsächlich hat; einen locker geschnittnen, wenn er aus der Trainingspause kommt und sich erst wieder schlank laufen muß.

Das Kaschieren von Problemzonen bei gleichzeitiger Betonung vorteilhafter Körperpartien – das war bis zum Anbruch der Moderne schon mal Domäne der Männer. Während der Moderne dann eher die der Frauen, jedenfalls von ihrer kulturell definierten Geschlechterrolle her gedacht. Und seit Anbruch der Postmoderne? Werden die herrschenden Rollenklischees programmatisch aufgebrochen, gilt auch für Männer wieder »Anything goes«, Hauptsache, es sieht gut aus. Wirklich? Unter der trendigen Oberfläche halten sich hartnäckig tradierte Verhaltensmuster und Schlüsselmechanismen – so schnell, wie es der Zeitgeist will, können wir Männer gar nicht aus unsrer Haut schlüpfen und in die vom Cross-Dressing angediente neue Haut hinein. Auch nicht als Läufer. Tatsächlich kaufen wir heutzutage zwar alles so hauteng wie möglich, am liebsten Größe S (obwohl wir bei Alltagskleidung L tragen), aber eben nur – und dieser vorgeschobne Grund beschwingt uns beim Einkaufen enorm –, weil wir nicht die wertvollen Sekunden verlieren wollen, die andre mit genau diesem oder jenem Teil gewinnen. Sprich: weil wir uns beim Einkaufen in die Tasche lügen wollen.

Nebenbei werden wir natürlich immer schicker, keine Frage, und doppelt verspiegelte Metallic-Laufbrillen mit orangeroten Bügeln können da wunderbare Akzente setzen. »Warum nicht mal wie eine coole Sau herumlaufen?« fragt Seb provokant und zählt sofort all die Vorteile seiner Rudy-Project-Brille auf, seiner Meinung nach stellt sie sogar Oakley-Brillen in den Schatten. Und wird trotzdem, wichtige Abgrenzung, nicht bloß von Triathleten als Quasi-Erkennungszeichen getragen.37

Interessanterweise kehrt sich der Markenfetischismus jedoch gerade gegen sich selbst. Früher war jedes Produkt nur in einer einzigen Ausführung, einem einzigen Design auf dem Markt und also aufgrund seiner Saisonfarbe sofort erkennbar. Mittlerweile tut die Industrie alles, um die Identität ihrer Produkte durch individuelles Einzeldesign zu verschleiern: Bei Sportbrillen kann man im Online-Shop Rahmenfarbe, Rahmenfinish, Glastönung usw. bis hin zum eingravierten Logo wählen; bei Nike- oder Adidas-Schuhen läßt sich die Farbe des Obermaterials, des Innenfutters, der Schnürsenkel oder der Zunge per Mausklick verändern, natürlich ist der Schuh auch individuell zu beschriften. Ohnehin ist die Läufermode innerhalb der letzten Jahre kreischbunt geworden, nun brechen die letzten Barrieren. Wer bei Km 6 kurz rundum blickt, sieht sich umwogt von einem Meer an Farben. Manch einer hat sich lilatürkisorange wie ein Clown kostümiert – er wähnt sich heute ganz weit vorne, zumindest optisch.

Stil besteht bekanntlich darin, beständig der Übertreibung entgegenzuwirken. Er hat mit Modebewußtsein nur insofern zu tun, als er es permanent in die Schranken weisen muß, die saisonale Umtriebigkeit der Bekleidungsindustrie interessiert ihn bestenfalls am Rande. Wo das Modebewußtsein zur Flatterhaftigkeit animiert, beharrt der Stil auf Prinzipien. Man hat ihn oder hat ihn nicht.

Gestylt wird sich unter Läufern mit erheblichem Aufwand, aber hat man damit bereits Stil? Daß sich nicht wenige Frauen nur perfekt geschminkt und in perfekt miteinander abgestimmter Laufkleidung auf die angesagten Freizeitstrecken ihrer Stadt begeben, wird niemanden überraschen, schließlich sind diese Strecken oft identisch mit den angesagten Anbaggerparcours. Überraschend ist, daß auch Männer darin nicht zurückstehen, seitdem die Industrie ihre saisonalen Herrenkollektionen zur »Ausrüstung« umfirmiert hat. Was früher die Flaniermeile à la Jungfernstieg oder Corso war, ist heute die Strecke, und zwar für beide Geschlechter. Für den besonders offensichtlich nach Blicken heischenden Läufer gibt es in der Szene bereits ein neues Wort: POL – »Publikumsorientierter Läufer«.

Doch eigentlich ist unser jahrelanges Understatement in Herren-Schwarz erst seit dem Winter 2012/13 passé, als übernacht die ersten leuchtgelben Jacken in den Laufläden hingen. Wer seitdem schnell aussehen will, muß zumindest mit einer Signalfarbe markiert sein. Kleider machen Läufer. Die echten unter ihnen erkennt man freilich (im Winter) nicht selten ausgerechnet daran, daß ihre »Long Tights« ausgewaschen, an den Knien zerrissen und gestopft sind – ein Ehrenabzeichen. Und im Sommer? Läufer würden (abgesehen von Technologieinnovationen) kaum Neues kaufen, sie hätten ja schon alles, sagt Marion, die Geschäftsführerin des Laufwerks Hamburg: Wirklich kaufen täten Neueinsteiger und Jogger.

Das kann jedoch nur mit zahlreichen Ausnahmen stimmen. Einer wie Peter gibt zum Ärger seiner Frau mehr Geld für Laufkleidung aus als für normale Kleidung, er belohnt sich regelmäßig mit Einkäufen – und ist mit seinen 14 absolvierten Marathons mindestens ein echter Läufer. Woran kann man sie also erkennen, und erst recht in einem Rennen? Bei Km 6, wo sich das Feld noch keinesfalls sortiert hat, ist man umzingelt von Newcomern und erfahrnen Marathonis, von solchen, die nur mal schnell eine Wette einlösen wollen, und von Ultraläufern, die nur mal schnell einen Testlauf absolvieren müssen – und damit von modischen Bekenntnissen aller Art. Marathon ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr und nicht weniger als ein schichtübergreifender Scan unsrer Gesellschaft. Die älteren Läufer gern etwas dezenter in teureren Marken; Jüngere und Junggebliebne in Nike oder Adidas.38 Selbst derjenige, der im Schlabberlook (ausgeleiertes T-Shirt, Baumwolltrainingshose) oder in Tchibo-Klamotten rennt, gibt damit ein Statement ab. Erst recht derjenige, der mit nacktem Oberkörper scheinbar über allen Modetrends steht.39 Da fällt ein Seb mit seiner Angeberbrille kaum mehr auf.

Nur eines läßt sich mit Blick auf die Kleidung alias Ausrüstung nicht sagen: ob ein richtiger Läufer drinsteckt oder nicht. Wir alle sehen nämlich heutzutage wie richtige Läufer aus! Schon erstaunlich, wie man eine solch einfache Sportart innerhalb weniger Jahre zu einem gigantischen Lifestyle-Spektakel hochtunen konnte. Vor allem unsre Oberbekleidung fungiert dabei als Visitenkarte, vom Finisherhemd früherer Läufe über Charity-Hemden und all die todernsten Vereins- und Lauftreffhemden40 bis hin zu solchen mit vermeintlich witzigen Botschaften auf dem Rücken: »Umdrehen wär’ jetzt auch doof«. Lustige Hemden kosten den, der hinter ihnen herlaufen muß, enorm Kraft, es hilft nichts, man muß überholen. Und spätestens bei jedem dieser kleinen Überholmanöver spürt man dann: So wie einen mies bedruckte Hemden runterziehen, so bringt einen gute Kleidung voran. Sollten einem später die Kräfte schwinden, ist man immerhin noch gut angezogen. Wird also nie so schlecht aussehen, als wäre man schlecht gekleidet an den Start gegangen.

Bleibt ein letztes Problem: Was jetzt Stil oder wenigstens Lebensfreude verkörpert, wird in wenigen Stunden … Oja, auch eines unsrer feschen lilatürkisorangen Teile wird in Kürze, sobald wir sie alle zum Trocknen im Hotelzimmer verstreut haben, ganz dezent zu muffeln anfangen und bald drauf unverhohlen zu stinken. Seltsamerweise läßt er sich trotz aller Neukäufe nicht aus der Welt schaffen, der Gestank der Funktionswäsche beim Trocknen. Natürlich ist es immer nur ein einziges Teil, das diesen markanten Geruch absondert – Ehefrauen protestieren dann gern mit den Worten, sie wollten nicht in einem Katzenklo leben. Nein, es ist nicht der Schweiß, der hier riecht – Läuferschweiß ist tagesfrisch –, es ist die Kleidung selbst, die atmungsaktive Faser im speziellen, die’s tut. Und am meisten tut’s in der Regel ausgerechnet unser aktuelles Lieblingsteil. Die Mythos-Jacken von Gore setzen auch in dieser Beziehung den Maßstab; selbst antibakterielle Waschpulver kommen nicht dagegen an.41 Peter duscht seine Jacke daher nach jedem Lauf innen ab, ein Liebesdienst an der Softshell-Membran, die wir für den Verursacher des Gestanks halten.

Aber auch manch heißgeliebtes Dryfit- oder Climaproof-Stück entwickelt beim Trocknen ungeahnte Qualitäten, auf Heizkörpern zur Winterzeit allemal. Beimischungen von Silberfäden oder Bambusfasern sorgen keineswegs verläßlich für Abhilfe; wer in atmungsaktiver Kleidung laufen will – und das will jeder –, der muß anscheinend mit dem Gestank leben, der ihrem Wesen innewohnt.

Rettung verspricht die Rückkehr zu altbewährten Naturprodukten, der neuseeländische Outdoor-Ausrüster Icebreaker fertigt seine Bekleidung zu 100 % aus einheimischer Merinowolle. Seb war natürlich wieder der erste, der zugriff, sogleich darauf schwor – und sich mitten im Wintertraining eine veritable Grippe einhandelte. Denn stinken tat sein Dreilagensystem aus Icebreaker-Unterhemd, -Hemd und -Jacke zwar nicht, doch den Schweiß von der Haut weg und in die Außenschichten hinauf saugte es eben auch nicht. Im Gegensatz zur Hochtechnologiefaser, die Wasser effizient in die äußerste Bekleidungsschicht transportiert – je nasser man dort ist, desto trockner ist man auf der Haut, eine segensreiche Erfindung. Eben das hat Seb in jenem Winter noch einmal neu begriffen; seitdem trägt er seine Icebreaker nur noch als Freizeitkleidung. Und beim Laufen wieder genau die Sachen, die so gut aussehen und danach so schrecklich, das heißt: so schrecklich professionell stinken.

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