Читать книгу 42,195 - Matthias Politycki - Страница 8
Km 4
ОглавлениеDas Rennen lesen
Das einzige, was bei jedem amtlich vermessenen Straßenrennen vorab feststeht, ob in Himmelpforten oder New York, ist die Streckenlänge. Falls man nicht in Wien startet, wo sich bei der Nachmessung eines Hallenmarathons herausstellte, daß die Strecke um 1760 m zu kurz abgesteckt war – »Zuschauer und Sportler wunderten sich über die tollen Laufleistungen«26 –, dann weiß man, worauf man sich einläßt: 5 oder 10 km, 21,0975 oder 42,195 km, 43,527, 5628 oder 100 km29 undsoweiter, bis hin zu all den Etappen-Ultramarathons, die sich über 230 Wüstenkilometer hinziehen können.30 Doch mit der schieren Streckenlänge weiß man eigentlich noch gar nichts.
Jede Strecke stellt dem Läufer Fragen, jeder Läufer muß ihr darauf seine Antworten geben. Bei einem Halbmarathon läßt sich gewiß noch improvisieren, im Grunde ist man diese Distanz zu Trainingszwecken hundertmal gelaufen, auch ein überraschend deftiger Anstieg in der Zielgeraden wird einen kaum aus dem Konzept bringen. Ein Marathon ist eine andre Sache. Ihn zu rennen heißt, sich auf alles vorbereitet zu haben, was dabei erwartungsgemäß passieren wird, was da oder dort schlimmstenfalls passieren könnte, was da oder dort keinesfalls passieren darf. Wer Marathon läuft, liebt keine Überraschungen. Er will, daß alles nach Plan läuft. Dazu muß er aber wissen, wo der Zufall an der Strecke lauert. Er muß seine Antworten schon vorab durchgespielt haben, bevor ihm die Fragen tatsächlich gestellt werden. Sobald er sich für einen bestimmten Marathon angemeldet hat, verhält er sich damit wie ein Schriftsteller, der beschlossen hat, diesen oder jenen Roman anzupacken. Beide wissen, daß sie mit bloßem Drauflosrennen oder -schreiben höchstwahrscheinlich nicht bis zum Ziel durchhalten werden und daß sie gut daran tun, sich erst einmal gründlich mit den Besonderheiten und Tücken der Wegstrecke auseinanderzusetzen, die vor ihnen liegt.
Wer die Strecke kennt, kennt bereits das Rennen, das er darauf laufen wird – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Vielleicht können Marathonis ohne Trainingsplan leben, ohne Streckenplan könnten sie es kaum. Zumindest wenn sie das anstehende Rennen als Wettkampf laufen wollen – ihr Erfolg hängt ganz wesentlich von einer intelligenten Renneinteilung ab, einer Festlegung des Lauftempos pro Streckenabschnitt. Manche laufen den Parcours zuvor sogar in Teilstücken ab (wie Abebe Bikila, der äthiopische Barfußläufer, vor seinem Sieg bei den Olympischen Spielen 1960). Andre fahren sie mit dem Auto ab, studieren sie im Video des Veranstalters oder per Google Earth als Satellitenbild. Beim Bebrüten des Streckenplans, mit dem sie als Rennstrecke erst in drei oder vier Monaten konkret konfrontiert werden, sind sie mindestens so sehr am Laufen wie draußen auf ihrer Hausstrecke. Das führt in wechselnder Abfolge zu tiefster Sorge, zu Zweifel und Zerknirschung, aber auch immer wieder zu neuer Entschlossenheit.
Ähnlich heftig auf und ab geht es mit mir auch in den Monaten vor der Niederschrift eines Romans. Immer wieder aufs neue laufe ich die Strecke ab. Erst so entwickelt sich überhaupt eine Art Entschlossenheit. Das Romanschreiben beginnt, lange bevor man den ersten Satz zu Papier bringt.
Ein Marathon beginnt, lange bevor der Startschuß fällt. Schon der Streckenplan kann die ganze Palette menschlicher Emotionen hervorrufen. Keiner liest ihn der bloßen Orientierung wegen – auf einer Marathonstrecke kann man sich beim besten Willen nicht verlaufen.31 Man liest ihn, lernt ihn, verinnerlicht ihn, um all das zu erfahren, was hinter dem Plan steckt – Euphorie und Verzweiflung, Triumph und Tragödie. Der Streckenplan eines Marathons ist ein Roman mit einer Folge starker Anfangsszenen und, hoffentlich, mit Happy End. Aber dazwischen? Dazu muß man ihn gelesen haben.
Auch die langen Läufe, die man während des Trainings an den Wochenenden absolviert, wollen vorab gelesen werden. Mehr noch, sie wollen stets aufs neue überhaupt erst erfunden, festgelegt, geschrieben werden. Selbst wenn man seine Hausstrecke lieben gelernt hat, man will ja nicht immer nur drei Stunden um den Dutzendteich oder die Donau rauf- und runterlaufen. Sofern man sich nicht die entsprechende topographische Karte gekauft hat, muß man sich mit Google Maps behelfen.
London, die schier unfaßbare Megacity, habe ich mir auf diese Weise systematisch erlaufen, von Richmond im Westen bis zur Thames Barrier im Osten. Als mein Flugzeug bei einem Landeanflug über der Stadt kreisen mußte, erkannte ich von oben nicht nur Themse, River Lee, Union Canal und überhaupt all die Kanäle und Parks, an denen und durch die ich gelaufen war. Jede meiner Strecken hatte ich anschließend mit Leuchtmarker auf einem Stadtplan eingezeichnet, im Lauf der Wochen hatten sie sich als mein persönliches Netz über die Stadt gelegt. Jetzt konnte ich dieses Netz von oben erkennen: Sobald ich meine Leuchtmarkerspuren hineindachte, lag das ganze riesige Häusermeer wohlgeordnet wie mein Stadtplan unter mir. Zwar konnte ich nur vergleichsweise wenige Bauwerke wiedererkennen, umso deutlicher jedoch sah ich die Struktur der Stadt. Ich war nicht nur ein paar Monate durch London gelaufen, ich hatte London dabei auf meine Weise begriffen. Das war das Glück.
Aber auch München und Hamburg habe ich, obwohl ich dort ja seit Jahrzehnten lebe, erst durchs Laufen richtig kennengelernt. Und nicht etwa nur das Wunderschöne an beiden Städten, isarab- oder elbaufwärts, sondern gerade auch ganz unspektakuläre Ecken und Wohngegenden, einfach deshalb, weil sie auf der Strecke lagen. Man kommt nicht nur als ein andrer von jedem dieser Läufe zurück, auch die Welt, in der man lebt, ist danach nicht mehr ganz die gleiche wie zuvor.32
Aber dann, endlich, das Rennen selbst. Endlich die Strecke, wie man sie hinter und durch den Plan schon seit Monaten vor dem inneren Auge gesehen hat. Wenig ist beflügelnder, als im Verlauf eines Marathons an Stellen vorbeizukommen, die man erkennt. Man hakt sie gewissermaßen fast forward ab. Das müssen keine Highlights sein, beim Hamburg-Marathon ist eine der zentralen Wegmarken der Ohlsdorfer Bahnhof, Km 31, ganz unspektakulär. Passiert man ihn, ist das Rennen auch für die Zuschauer schon in fortgeschrittnem Zustand, liegen einige von ihnen bereits als Bierleichen knapp neben der blauen Linie: jede für sich ein Kontrapunkt zu den weiß gedeckten Tischen, die man auf der Uhlenhorst direkt an der Strecke aufgebaut hat, Km 19–20, um das Zuschauen mit einem Champagnerfrühstück zu verbinden. Danach erwartet einen nurmehr Ödland namens Maienweg oder Alsterkrugchaussee, bevor man am Eppendorfer Baum wieder auf menschliches Leben stößt. So turbulent es dort dann auch zugeht, die Wende in Ohlsdorf ist für mich der wichtigste Punkt dieses Marathons; hat man ihn erreicht, geht es – ja, erst mal durch trostlose Kulissen, aber vor allem, jetzt deutlich zu spüren, Richtung Ziel. Weil jedoch zum Streckenplanlesen immer auch das Lesen des Streckenprofils gehört, weiß man auch, daß es hinter Ohlsdorf zwar konsequent nach Hause gehen wird, auf der Rothenbaumchaussee freilich noch mal bös bergan.33 Daß man also auf der (abschüssigen) Alsterkrugchaussee die Hacken besser etwas höher ziehen sollte, um im Schwung der Unterschenkel nach vorne Kraft zu sparen. Eigentlich ganz einfach, sofern man beide Pläne miteinander abgeglichen hat.
Seltsamerweise hört die Auseinandersetzung mit einer Marathonstrecke auch nach dem Rennen nicht auf. Wenn ich auf dem Sterbebett liegen werde, so stelle ich’s mir vor, werde ich all meine Strecken mit geschlossenen Augen noch ein letztes Mal ablaufen. Manchmal tröstet dieser Gedanke. Manchmal versetzt er mir aber auch einen Stich, dann blicke ich beim Laufen schnell noch einmal dorthin, wo etwas Besonderes am Wegrand zu sehen war. Ich will mir ja alles gut einprägen. Doch für wehmütige Gedanken ist dabei keine Zeit, wer läuft, kann nicht gleichzeitig wehmütig sein.