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Km 2

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Geradeaus denken

Die Gerade ist die Idee der Laufstrecke schlechthin, die Bewegungsabfolge des Läufers dann in ihrer Schlichtheit reinstes Zen. Läuft man lang genug geradeaus, wird man selber gerade. Natürlich nur metaphorisch gesprochen, aber was heißt hier »nur«? Alles reduziert sich, wird wesentlich. Und plötzlich ganz einfach – das hier ist der Weg, das dort das Ziel. Mehr braucht es nicht, um wieder einen unverwirrten Menschen aus mir zu machen. Schluß mit den komplizierten Gedanken, den komplexen Lösungen. Das Gute ist nicht gut, weil es interessant, sondern weil es einfach gut ist.

Als Schriftsteller gefällt man sich oft in einer Haltung, die das Einfache zu übertrumpfen sucht. Man denkt um mehrere Ecken gleichzeitig, jongliert mit Nebeneinfällen, wiegelt am Ende vorsichtig ab. Dabei ist es viel schwieriger, wesentlich zu werden. Heißt: einen Gedanken auf die einfachstmögliche Weise zu Ende zu denken. Und entsprechend zu Papier zu bringen. So sehe ich es jedenfalls heute, nachdem ich es, zugegeben, eine geraume Zeitlang anders gesehen habe. Aber erst heute bzw. seit einigen Jahren weiß ich, daß »einfaches« Erzählen wesentlich schwieriger ist als experimentelles. Klar, auf einer Gedankenkurve könnte man brillieren. Eine Ellipse zu schreiben brächte mehr Bewunderung ein. Und erst ein schön geschwungener Achter! Es hilft nichts, die Wahrheit liegt auf der Geraden.

Vor Anbruch der Moderne – also in etwa bis zur Renaissance – studierten bildende Künstler ihr Leben lang das Gute, wie sie es bei Vorgängern und Zeitgenossen fanden. Sie wollten nicht originell sein, sie wollten ihren bescheidnen Platz in der Abfolge des Guten finden. Jeder, der sich in der Tradition dieser (als unendlich gedachten) Geraden bewegte, verlängerte die Strecke um einen, um seinen Millimeter. Damit war er zufrieden, darauf war er stolz. Alles, was von der Geraden wegführte, galt als Abweichung, die letztendlich in der Sackgasse münden würde. Heute weiß niemand mehr so recht, wo die Gerade eigentlich ist, ja, ob es überhaupt noch eine gibt. Wo man in der Moderne irgendwann vor lauter Originalität und Komplexität vielleicht nur noch Sackgassen gesehen hat, sieht man in der Postmoderne erst mal nur noch Mainstream. Und ebensowenig von der Geraden.

Wer lange Läufe macht, will weder originell sein noch gar sich originell geben. Er glaubt an die Strecke, und er will sie in der bestmöglichen Zeit absolvieren, er will am Ende »gut« gewesen sein, was immer das für ihn bedeutet. Nichts darf in einer Sackgasse münden. Rennt er mit andern, will er sie nicht mit Gejammer vom Guten abbringen, und zurückfallen will er erst recht nicht. Marathon ist eine ganz einfache Disziplin, deshalb ist sie so schwer. Schon das Training dafür. Klar, an die zahllosen Geraden, die wir in all den Jahren gerannt sind, werden wir uns kaum erinnern – außer an die wirklich langen wie die 4th Avenue in Brooklyn oder die 1st Avenue in Manhattan, die man beim New-York-Marathon jeweils eine halbe Ewigkeit lang zu absolvieren hat. Oder an die existentiellen Geraden auf Fünen, die alle in die Unendlichkeit zu führen scheinen, jedoch auf völlig unromantische Weise: Kein einziges Hindernis im Weg, und trotzdem kommt man dem Horizont mit keinem Schritt näher, eine echte Herausforderung, nicht nur für die Beine.

Auf der Geraden wartet nicht das Wunder, sondern dessen Gegenteil, die permanente Wiederholung – und damit die Sache selbst. Laufen wird zu einer Art kathartischem Läuterungsprozeß, wir werden zurechtgeruckelt durch Tausende an Schrittimpulsen, um einige krautige Gedanken erleichtert und nicht selten um diese oder jene neue Erkenntnis bereichert. Sobald man sich nicht mehr auf den Parcours konzentrieren muß, geht der Lauf konsequent nach innen. Alles Überflüssige bleibt auf der Strecke – man kehrt stets als ein andrer zurück.

Im Lauf der Jahre wird man ein andrer. Dann ist jede der Geraden, an die wir uns nie erinnern werden, Teil von uns selber geworden. Und mit allen andern Geraden zusammengewachsen zu unserm Charakter. Natürlich nur metaphorisch gesprochen, aber was heißt hier »nur«? Versteht sich, daß auf der Hausstrecke auch Kurven als Gerade gelten, hier laufen wir im Zweifelsfall blind, wir kennen jeden Baum und jeden Himmel darüber – die Welt, durch die wir laufen, braucht uns gerade nicht und wir brauchen sie ebensowenig. Schon nach wenigen Schritten sind wir ganz bei uns oder kommen uns zumindest entgegen. Von da an laufen wir immer nach Hause.16

Beim Marathon selbst gelten andre Gesetze. Da muß man den Kopf so schnell wie möglich leerlaufen, um zur Maschine zu werden, zum Laufwerk. Das gelingt beileibe nicht an jedem Tag. Aber wenn es gelingt, wird es ein grosses Rennen. Eines, das ganz aus Rhythmus besteht und eine Art hellwache Trance erzeugt, wie in den besten Momenten beim Schreiben. Da ist es in beiden Fällen nicht mehr »ich«, der vorankommt, sondern »es«.

Bei Km 2 ist es freilich noch längst nicht soweit. Jetzt ist erst mal Showtime, das große Wir feiert sich selbst. Falls es den magischen Augenblick während eines Marathons gibt, da wir, jeder für sich, in den Anderen Zustand hinüberlaufen, dann 10 oder 15 Kilometer später, frühestens. Aber genau dafür laufen wir schon jetzt.

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