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Km 8

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Absurdes Theater

Wo Clowns an den Start gehen, sollte man sich mit Frohsinn wappnen. Nicht jeder beschränkt sich auf lilatürkisorange Kostümierung, Lebensfreude geht noch weit bunter: als Hänsel oder Gretel, Cowboy oder Indianer, Biene Maja oder Batman … Nein, wir sind nicht in der heilen Welt eines Kindergeburtstags, hier betreiben erwachsne Menschen einen Ausdauersport, dessen unfreiwilliger Erfinder bekanntlich tot im Ziel zusammenbrach.42 Nichtsdestoweniger wird der Lauf von ihnen als Maskenparade verstanden; es fehlt gerade noch, daß sie »Helau« rufen und Bonbons ins Publikum werfen. Männer im Anzug, Männer in Tutus und Netzstrümpfen oder, halbdutzendweis, als blau angemalte Schlümpfe, Sieben Zwerge oder Horde keulenschwingender Steinzeitmenschen … Beim New-York-Marathon geriet ich gleich zu Anfang hinter einen Kerl, der fast nackt lief und ein riesiges »Holzkreuz« geschultert hatte. Für diesen Anblick hatte ich entschieden zu wenig trainiert.

Immer mal wieder treten Läufer zum (Halb-)Marathon auch als Braut und Bräutigam an, die ganze Hochzeitsgesellschaft im Laufschritt hinterher. Verkleidet ist hier ausnahmsweise niemand, geheiratet wird tatsächlich an einer der Verpflegungsstationen und im Handumdrehen, die Zeitnahme ist deshalb ja nicht etwa unterbrochen, das Regionalfernsehen dreht zügig mit. Und dann gibt’s pro Großstadtmarathon auch mindestens einen Läufer, der die Tibet-, und einen weiteren, der die Regenbogenfahne trägt – nicht etwa als kleine Wimpel, sondern als respektable Flaggen. Sind das noch Clowns, die sich als Demonstranten verkleidet haben, oder schon Demonstranten, die … einfach im falschen Film unterwegs sind? Oder bezahlte Werbeträger? Denn auch die mischen sich bei Stadtmarathons unters Läufervolk, als mannshohe Joghurtbecher, Sebamed- oder Bierflaschen, was immer die Sponsoren des Ereignisses an Produkten ins Rennen schicken. Wahrscheinlich sind das die offiziellen Hofnarren der Veranstaltung.

Bei jedem Rennen frage ich mich aufs neue: Was sind das für Menschen, die 42 km lang lustig und originell sein wollen? Inzwischen gibt’s sogar Marathons, die bereits von Veranstalterseite als Volksfest und Maskenzug konzipiert sind, mindestens gleichrangig zu ihrer eigentlichen Bestimmung als Volkslauf. Der Honolulu-Marathon, fest in der Hand der Japaner (die zu Hause keinen Karneval kennen), scheint hier lustige Maßstäbe zu setzen. Innerhalb Deutschlands herrscht das tollste Treiben naturgemäß in Köln, wo der Marathon als Kostümwettbewerb gelaufen wird43 – Konfettiregen am Start, Karnevalskapellen und Kölsch-Fäßchen an der Strecke.

Was in Köln etwa bei Km 38 zur festen Institution gehört,44 ist beim Médoc-Marathon das strukturgebende Prinzip: Die Strecke führt an Dutzenden von Weingütern entlang und durch einige auch mitten hindurch; versteht sich, daß an den Verpflegungsstationen Bordeaux ausgeschenkt wird. Verpflegungs- oder eigentlich Verkostungspunkte sind im Streckenplan deren zwanzig eingetragen – der eigentliche Marathon. Spätestens ab Km 30 mutiert das Ganze zum Wandertag. Zwischen Km 38 und 41 werden in den gebotnen Verdauungsabständen Austern, Entrecote, Käse und schließlich Eis als Quasi-Viergängemenü angeboten.45 Wer hier rennt statt schlemmt, ist selber schuld. Wahrscheinlich wird die Zeit der Läufer nur deshalb gestoppt, damit der, der am längsten braucht, von seinen Mitzechern als heimlicher Sieger gefeiert werden kann.46 Beworben wird der Médoc-Marathon denn auch mit der Zeichnung eines lustig volltrunknen Läufers und dem Slogan »Le plus long Marathon du monde« – die Rotweinflasche in der Hand gibt die Streckenlänge vor, nicht die blaue Linie. Französische Lebensart trifft auf französischen Humor.

Ein bißchen Laufen und ein bißchen Trinken, das paßt nicht zusammen. Aber vielleicht ja … richtiges Laufen und richtiges Trinken? Dem, der von Sauf und Lauf nicht lassen will – aber nicht auf die deutsche Variante steht, bei der aufgrund zu schleppender Bierkästen ja nicht wirklich gelaufen werden kann –, dem sei gesagt, daß es auch in dieser Hinsicht eine Art Himmelpforten gibt, einen kleinen ehrlichen Gegenpart zu Großbesäufnissen à la Médoc-Marathon: Er heißt Victoria Park und liegt im Londoner East End. Dort rufen die Victoria Park Harriers jedes Jahr zur »Chunder Mile«, und gelaufen wird hier wie bei allen »Beermile«-Rennen stets um nichts weniger als den Weltrekord:

»For those that are unaware, the Chunder Mile involves running a mile and drinking four pints (four half pints for women) and therefore, most probably, chunder! You start the race with the consumption of a pint (or half pint) of lager – minimum 4 % alcohol – (which will be provided) and proceed to run a lap of the track (400 metres) plus 9 metres. You then stop and consume another pint (or half pint) and then run another lap of the track. You are now half way. Two more drinks; two more laps, and you are finished (in more than one sense). One may chunder at one’s own discretion.«47

Der aktuelle Weltrekord steht bei 4:57, auf der ewigen Weltrangliste sind die 1000 Erstplazierten festgehalten, dazu auch die Biermarke, die während des jeweiligen Laufs gekippt wurde. Man erfährt, daß sich vier 0,33 l-Dosen Budweiser am schnellsten wegrennen lassen. An vier Pints englischem Bier schluckt und läuft (und kotzt) man deutlich länger.

Zurück zum Bordeaux: Wo sich bei einem Beermile-Rennen wenigstens niemand verkleidet, erregt ein unverkleideter Läufer beim Médoc-Marathon geradezu Anstoß. Das Werbevideo des Veranstalters zeigt Maskierte in außerirdisch entfesselten Heerscharen – der größte Läuferirrsinn, den man sich vorstellen kann. Sagt Peter, der schon zwei Mal daran teilgenommen hat. Obwohl wir andern nur mit Kopfschütteln reagieren, Peter beharrt darauf: Ein großes Vergnügen sei das gewesen, ein unglaublich großes Vergnügen.

Peter ist ein veritabler Läufer, und wir mögen ihn trotzdem. So was wie der Médoc-Marathon, aber auch jeder Advents- oder Silvesterlauf, bei dem bevorzugt Nikoläuse und Santakläuse auf Glühwein und Punsch losgelassen werden, belegt uns die Infantilisierung der westlichen Welt, gegen die wir heimlich anrennen: Laufen selbst ist uns ja das Vergnügen, das Straßenrennen als solches Volksfest genug. Warum sollte es durch die programmatische Unernsthaftigkeit eines weiteren Volksfests konterkariert, ja, überboten werden? Mögen andre in Lederhose, Kilt oder Kimono laufen, Sportsgeist demonstrieren sie damit in unsern Augen noch lange nicht.

»Macht euch locker«, winkt Peter ab, »man kann doch auch mal Spaß haben beim Laufen.«

Spaß? Damit wird in der Tat von vielen Veranstaltern geworben. Sehen wir den Marathon etwa zu einseitig, wenn wir ihn nicht als Open-air-Gaudi verstehen wollen und schon gar nicht als Open-air-Besäufnis? Nun gut, die verschiedensten Läufer finden aus den verschiedensten Motiven am Tag des Rennens auf ein und derselben Strecke zusammen. Wo die einen antreten, um nach 42,195 km hoffentlich Anlaß zum Feiern zu haben, feiern andre vom Start weg. Auch unter diesem Gesichtspunkt ist der Pulk der Läufer ein Abbild unsrer Gesellschaft. Mit der Vielfalt locker umzugehen, wie Peter empfiehlt, ist in der Theorie eine Selbstverständlichkeit, in der Praxis immer wieder eine Herausforderung. Kilometerlang nicht an einem Fastnackten vorbeizukommen, der ein Kreuz durch die Stadt trägt, schult nicht schlecht zur Toleranz auch außerhalb der Strecke.

42,195

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