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Km 1

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Alles richtig gemacht? Alles richtig gemacht.

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers beginnt schon auf dem ersten Kilometer, mitten im Pulk der Mitläufer. Kannichalleshabichalles? Als Erstkläßler war’s verhältnismäßig einfach, beherzt in den Tag aufzubrechen, stets gab es jemanden, der Sorgen und Selbstzweifel mit festem Ja davonfegte. Diese Instanz fehlt euch nun, der Trainer ist Chef, nicht Mutter, und außerdem ist er sonstwo, bei seinem eignen Rennen oder, schlimmer noch, online, um euren Lauf anhand der live abrufbaren Zwischenzeiten zu verfolgen. Im Gleichklang der Schritte neben dir Onkel, aber den kannst du jetzt nicht mehr fragen. Hoffentlich lauft ihr nicht zu schnell und nachher zu langsam, JP ist ein strenger Trainer, das würde er tadeln. Dermaßen viele Fehler, die man machen kann. Was andre empfohlen haben, kann einen selber vollkommen aus der Bahn werfen: Schuhe mit zu niedriger Sprengung,8 Koffein-Gel, Trinkgürtel beim Rennen … Dermaßen viele Fehler, die ihr schon gemacht habt! Hoffentlich ausreichend viele, heute wollt ihr keine neue Erkenntnis gewinnen, sondern eine neue Medaille. Durchpusten und Puls runter, so kurz nach dem Start könnt ihr noch gar nichts falsch gemacht haben. Und davor erst recht nicht, das war ja alles hundertmal durch- und abgesprochen: Drei Monate vor dem Rennen habt ihr mit dem Training begonnen. JPs Trainingspläne sind … eine permanente Herausforderung, und ihr habt kein einziges Mal gekniffen, nicht mal während der 80 km-Wochen. Habt eure langen Läufe am Wochenende länger und länger gemacht, die Tempoeinheiten dazwischen härter. Naja, so hart es eben ging, mittelhart vielleicht. Aber Alkohol habt ihr wirklich keinen getrunken – abgesehen von den unumgänglichen Anlässen. Verdammt, hör auf zu denken, laß es laufen! Aber ja doch, abgesehen von der einen oder andern Völlerei habt ihr euch vollkommen gesund ernährt, absurd gesund! Sogar Eiweißpulver habt ihr morgens ins Müsli gerührt, als wolltet ihr nebenbei auch noch Bodybuilder werden, und abends Walnüsse geknabbert oder Bitterschokolade mit mindestens 70 % Kakaoanteil. Drei Monate lang laufen, laufen, nichts als laufen. Nachdenken übers Laufen an sich, Diskutieren des letzten Laufs, Vorbereiten des nächsten. Dazwischen schwimmen, dehnen, Hanteln heben. Zielvorgaben ausgeben und widerrufen. Ab heute ist Schluß damit, heute werdet ihr endlich wieder richtiges Bier trinken! Und zwar mit umgehängter Medaille. Nur deshalb seid ihr hier unterwegs, und alles läuft nach Plan. Hoffentlich. Ihr habt euch die letzten Tage geschont, bis euch jeder Muskel weh tat,9 seid rechtzeitig angereist und auch brav im Hotel geblieben – naja, bis auf den kleinen Ausflug eben. Gestern abend habt ihr euch jeder einen halben Liter Energiedrink angerührt,10 habt die Herzfrequenzanzeige der Uhr abgestellt, damit ihr heut ohne Brustgurt laufen könnt.11 Seid früh zu Bett gegangen und noch früher wieder aufgestanden, damit ihr drei Stunden vor dem Start gefrühstückt hattet. Ja, das kleine Läufer-Einmaleins beherrscht ihr mittlerweile – jeder von euch und am besten beide zusammen. Nein, Onkel hat auch kein Auge zubekommen, ist normal, ein gutes Zeichen. Wäre Onkel so drauf wie Seb, hätte er sogar die Kaffeemaschine von zu Hause mitgenommen, damit ihr den gewohnten Espresso trinken könnt, bloß keine Experimente mit Hotelkaffee, mit Hotelsemmeln, Hotelobst. Seb übertreibt vielleicht ein bißchen; aufs Hotelfrühstück habt aber auch ihr lieber verzichtet, ein Starter12 von Dr. Feil genügt. Oder wäre eine doppelte Portion Starter doppelt so gut gewesen? Eine Banane dazu? Ein Energieriegel? In jedem Fall richtig: die nächste Flasche Energiedrink. Eine halbe Stunde später habt ihr euch gezwungen, nur noch in kleinen Schlucken zu trinken, damit ihr während des Rennens nicht irgendwo wild urinieren müßt. Alles schon vorgekommen, kostet Zeit und Nerven, typischer Anfängerfehler. Auf dem Weg zum Start habt ihr euch sogar fast zehn Minuten warmtraben können. Bei der Anmeldung hattet ihr eine verdammt gute Zielzeit angegeben, und prompt seid ihr im richtigen Startblock gelandet. Großartig! Wenn man im richtigen Startblock startet, ist das ganze Rennen viel einfacher. Wie im Leben, sagt Seb. Der hat gut reden, sitzt zu Hause und wartet darauf, daß die Ergebnislisten ins Netz gestellt werden. Soll er! Ihr seid im richtigen Startblock gestartet, alle laufen exakt euer Tempo. Vielleicht einen Tick zu schnell, egal. Immerhin seid ihr beide mit Idealgewicht an den Start gegangen – ihr habt euch vor der Kleiderbeutelabgabe jeder ein Dixi-Klo angesehen und danach jeder noch eines, perfektes Timing. Irgendein Hubert aus der 7:00er-Gruppe13 hatte irgendwann angefangen, sich vor den langen Läufen auf die Waage zu stellen und euch mit seinen Ergebnissen zu behelligen: Ergebnissen nach dem ersten Klogang und nach dem zweiten, der Unterschied habe bis zu 800 Gramm betragen. »Und jetzt stellt euch mal vor«, so der 7:00er-Hubert, »die würdet ihr ’n paar Stunden mit euch rumtragen!«14 Andre finden das peinlich. Läufer finden es bedenkenswert. Wenn Hersteller damit werben, daß ihre Wettkampfschuhe 100 g leichter sind als herkömmliche Laufschuhe, dann sind 800 g leichter … sogar sehr bedenkenswert. Der Russe in der Warteschlange vor den Toiletten hat euch ungebeten auch noch ein Stück seiner Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben: Alle, die man hier sähe, täten nur so cool und locker. Unten, in den Dixi-Klos, liege die Wahrheit! Nun gut, du warst auch einer von Zigtausend Schissern. Aber nun bist du tatsächlich cool und locker unterwegs, fall endlich in deinen Rhythmus! Eine Viertelstunde vor dem Startschuß hast du dein erstes Gel genommen und vier weitere dabei, sogar einen Gel-Chip, falls du am Ende noch was extra brauchen solltest. Ihr werdet euer Tempo drosseln, sobald euch der Pulk freigegeben hat, ihr werdet jede zweite Verpflegungsstation anlaufen, aber nur am Becher nippen, niemals austrinken, wieder so ein Anfängerfehler, ab und zu stirbt einer dran, sagt JP, am Zuviel-getrunken-Haben, muß man sich mal vorstellen. Ihr werdet euch das restliche Wasser höchstens übern Kopf kippen. Werdet an den Verpflegungsstationen keine Banane nehmen und erst recht kein Cola, wie’s Seb beim Hamburg-Marathon gemacht hat, legendärer Fauxpas bei Km 37 oder 38, angeblich sorge Cola dann für den letzten Kick. Wenige hundert Meter später war er im erstbesten Klo-Häuschen an der Strecke verschwunden. Das wird ihm nie mehr passieren und euch auch nicht. Konzentriert euch endlich, reißt die Augen auf, schaut genau hin, genießt es. Später werdet ihr nichts mehr genießen können, da genießen es nur noch eure Uhren – auf daß ihr euch den Rest der Strecke wenigstens nachträglich auf dem Bildschirm ansehen könnt.15 Und jetzt, jetzt grinst dich Onkel auch noch von der Seite an, zeigt auf das erste Kilometerschild am Streckenrand, und da spürst du’s endlich: Ja, ihr habt alles richtig gemacht, ihr werdet alles richtig machen, ihr könnt alles und ihr habt alles. Nur noch laufen müßt ihr, immer geradeaus.

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