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Km 12

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Laufen und Schreiben

Irgendwann vor 2010 muß es gewesen sein, als Manager den Marathon als Trendsport entdeckten. Mittlerweile ist er zum Volkslauf geworden; dennoch wird weiterhin gern von einem »Managersport« geredet. Der Frankfurt-Marathon führte 2010 die Sonderwertung »Marathon Manager« ein, und zwar keineswegs als klandestines Ingroup-Ranking, sondern mit Ausgabe von schwarzen Startnummern auf rotem Grund für alle, die sich als »Führungskräfte aus dem oberen und mittleren Management, die unternehmerisches Risiko und Verantwortung tragen«61, angemeldet hatten. Damit man sie während des Rennens auch auf den ersten Blick von der Masse der Läufer unterscheiden konnte.

Die passenden Thesen dazu finden sich in den passenden Medien: Angeblich laufen Spitzenverdiener ab 500000 Euro Jahreseinkommen den Marathon im Schnitt 16 Minuten schneller als Geringerverdienende.62 Explizit mitgelieferte These: Wer hart trainieren kann, wird auch beruflich erfolgreicher sein. Oder umgekehrt? Von welchem Ausgangspunkt aus die Korrelation auch behauptet wird, sie fordert dazu auf, überprüft zu werden: Im selben Artikel wird von einem Teilnehmerrekord des Jahres 2012 gesprochen, es sollen sich 561 Läufer in der Sonderwertung »Marathon Manager« angemeldet haben. Blickt man auf die Ergebnislisten, so haben davon bloß 374 Männer und 42 Frauen gefinisht;63 bei Führungskräften scheint also auch die Ausfallquote besonders hoch zu sein.

Oder paßt selbst das noch ins Klischee vom »Managersport«? Immer mal wieder werden in den Medien auch Erhebungen angeführt, wonach ein erheblicher Teil der Marathonläufer eine höhere Schulbildung habe als der Durchschnitt. Laufen wird dann als Sport eines bürgerlichen Mittelstands dargestellt; als Vorzeige-Protagonisten fungieren irgendwelche urban weltläufigen Intellektuellen, die sich ohnehin »bewußt ernähren«, auf die »Work-Life-Balance« achten und wie derlei Modefloskeln gerade lauten. Wo beim Analogieschluß vom Marathonläufer auf den Manager Durchsetzungskraft und starker Wille im Zentrum stehen, tun es beim Schluß auf den Mittelschichtler Lockerheit und teleologische Herangehensweise. Dazu JP, der als Trainer eine Menge Läufer betreut hat: »Marathon laufen vorwiegend Männer im Alter zwischen 35 und 60 Jahren. Sie kommen in der Regel aus Büroberufen, bei denen sie konzentriert und strukturiert arbeiten müssen. Das paßt zum Marathontraining, auch das betreiben sie möglichst effizient.«

Sei’s Disziplin und Durchhaltewillen, sei’s langfristige Zielverfolgung oder unbedingter Wille zum Erfolg, der Marathon bietet Schlüsselbegriffe zum eignen Selbstverständnis und dient als Parallelwunschwelt, von der aus gewisse Berufs- oder Bevölkerungsgruppen im hellsten Licht ausgeleuchtet werden können. Ganz offensichtlich auch mit dem Ziel, sich damit von andern abzugrenzen. Wer Marathon läuft, möchte sich nicht selten zu irgendeiner Elite rechnen, zumindest zu einer Sportlerelite.

Ob man diese eitle Illusion durchschaut oder nicht, die vielfältig betriebne Parallelisierung des Statussymbols Marathon mit der eignen »Peergroup« sagt einiges über die verborgnen feudalen Mechanismen einer spätdemokratischen Gesellschaft aus. Keine Frage, auch ich habe irgendwann angefangen, über die Analogie von Marathonläufern und Schriftstellern nachzudenken, insbesondre über diejenige von Marathon und Romanschreiben. Prompt fielen mir zahlreiche Aspekte ein – nicht selten während des Laufens, was ja bereits ein erster wichtiger Punkt wäre: So wie man beim Laufen en passant alle möglichen Probleme verarbeitet, wachtraumhaft Phantasien auslebt, spontan Ideen entwickelt, so kommen auch beim Schreiben die besten Einfälle ganz unversehens und beiläufig, kommen erst während des Schreibens, wo die Strecke doch längst perfekt abgesteckt scheint und alles im Fluß ist.

Mittlerweile habe ich so viel zum Thema gesammelt, daß man damit eine ganze Poetik-Vorlesung bestreiten könnte; hier zumindest einige Stichworte:

 Konditionierung: Auch ein Roman ist eine lange Strecke, für die man vor allem eines haben muß – Mut, überhaupt anzutreten. Dann aber auch die Kraft, sie bis zum Ende durchzustehen. Murakami: »Um grössere Schaffenskraft zu erlangen, muß man seine körperliche Kraft steigern, und es lohnt sich, etwas dafür zu tun (…).« »Ein ungesunder Geist braucht einen gesunden Körper.«64

 Die Dramaturgie der Langstrecke entspricht derjenigen des Romans: aufwendige Vorbereitung, Suche nach dem angemessenen Tempo, Trance, Krise, Selbstüberwindung, permanente Fokussierung auf den Zieleinlauf, Glücksdepression danach.

 Es gibt keine Nebensachen: Beim untrainierten Läufer schmerzt ein langer Lauf im Nacken, in den Schultern, der Hüfte – wo er es am allerwenigsten erwartet hätte. Man läuft eben nicht nur mit den Beinen. Und man schreibt auch nicht nur am Plot entlang. Um das Ziel nicht mit hängenden Schultern zu erreichen, muß man lange zuvor in etwas investiert haben, das man früher vermutlich als Nebensache abgetan hätte.

 Besser werden: Wer sein Tempo steigern will, darf nicht nur auf die langen Einheiten bauen. Er muß wechselnde Impulse setzen, ob mit klassischen Tempo-Einheiten, »Fahrtspiel« oder »Pyramidentraining«. Antrittsschnelles Erzählen als notwendige Voraussetzung für die langen Distanzen; wer jeden Tag nur seine Hausstrecke abläuft oder am Schreibtisch absitzt, wird im Rennen höchstwahrscheinlich einbrechen.

 Zielführendes Erzählen: Laufen kann jeder, einen guten Laufstil haben wenige. Um ihn zu gewinnen, muß man das Laufen noch einmal neu erlernen, muß es aufs absolut Notwendige reduzieren: kein unnötiges Posertum, zum Beispiel mit ausgefahrnen Armen oder raumgreifenden Schritten, um die eigne Überlegenheit optisch so zu inszenieren, daß sie sogar Spaziergänger begreifen. Der perfekte Läufer läuft unauffällig effizient, ja, bescheiden – und rollt das Feld irgendwann von hinten auf. Auch beim Schreiben tut Streichen richtig weh. Gerade Lieblingspassagen, mit denen man brillieren wollte, sind nicht immer zwingend notwendig für die Gesamthandlung. Eine Fülle an Einfällen führt … gewiß nicht auf kürzestem Weg zum Ziel.

 Gleichmäßige Verteilung von Plotpoints: Ein Rennen wird in der Mitte des Rennens gewonnen, auch das Rennen gegen sich selbst. Ein guter Start oder Schlußspurt ist nicht mehr als das Tüpfelchen auf dem i. Wieviele Romane fangen furios an! Und fallen auf der verbleibenden Erzählstrecke permanent ab.

 Ökonomie: Um einen Einbruch zu vermeiden, muß man beim Marathon von Anfang an mit seinen Kräften haushalten, darf sich nicht hinreißen lassen zu kraftraubenden Überholmanövern und Zwischenspurts. Sondern das Tempo allenfalls in der zweiten Hälfte des Rennens steigern. Wer in der zweiten Hälfte langsamer wird, hat nicht ausreichend trainiert.

 Nichtschreiben als Teil des Trainings: Für den ehrgeizigen Läufer ist es besonders schwer, Regenerationspausen ein- bzw. auszuhalten. Im Nichtstun kann Segen liegen. Auch die schriftstellerische Phantasie muß ihre Speicher erst wieder gefüllt haben, ehe sie neu durchstarten kann.

Jeder Sport hat seine eigne Poesie, wahrscheinlich könnte man über Stabhochsprung oder Speerwurf ähnlich ergiebig poetologische Überlegungen anstellen wie über Marathon. Wenn Ausdauerlauf tatsächlich eine größere Nähe zum Schreiben hätte als andre Sportarten, müßte es signifikant mehr Schriftsteller geben, die ihn ausüben. Es gibt unter ihnen jede Menge Fußballspieler,65 es gibt Schwimmer (John von Düffel), Boxer (Michael Lentz), Skifahrer (Norbert Gstrein), um nur einige wenige zu nennen. Wo aber, abgesehen von Murakami und Herburger, sind die Marathonläufer unter den zeitgenössischen Autoren? Selbst wenn ich den einen oder andern aus Unkenntnis übersehen haben sollte: Viele können es nicht sein. Die Parallele zwischen Langlauf und Roman, wie sie mir so allgemein und grundsätzlich zu sein scheint, gilt vielleicht doch nur für mich.

Was hingegen die Lyrik betrifft, so ist sie zumindest auf dem Thüringer Rennsteig traditionell mit dem Marathon verbunden. Wo gesungen wird, da laß dich ruhig nieder! Am Vorabend des Rennens spielt die Kapelle im Festzelt die Rennsteiglauf-Hymne:

Hei, hei, hei, ho, der Rennsteiglauf.

Hei, hei, hei, ho, wir sind gut drauf.

Hei, hei, hei, ho, im nächsten Jahr,

sind wir alle wieder da.

Hei, hei, hei, ho, im nächsten Jahr,

sind wir alle wieder da.

Lyrik vom Feinsten. Und wenn sich die legendäre Ultramarathonläuferin Jenn Shelton mit dem Rhythmus der Beatpoesie von Allen Ginsberg pusht, »um in dasselbe wogende Gleiten hineinzufinden«,66 so stimuliert sich die Läufergemeinde vor dem Start zum Rennsteiglauf mit dem gemeinsam gesungnen Schneewalzer:

Auf dem Rennsteig jedes Jahr steht die große Läuferschar

Sind zu jeder Zeit bereit ob es regnet oder schneit

Über Stock und über Stein Rennsteigläufer willst Du sein

Doch bevor der Startschuss fällt da singt die ganze Welt …67

… undsoweiter, bis der Rennleiter dem Schunkeln mit seiner Pistole ein Ende setzt.

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