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Dem Tod davonrennen

Monatelang hast du darauf hingelebt, nun ist es soweit. Wenn der Startschuß fällt, beginnt das Rennen deines Lebens. Jedes Rennen ist das Rennen deines Lebens, auch wenn du zuvor überall herumposaunt hast, du gingest es diesmal locker an. Aber du bist Läufer, umgeben von Läufern, und jeder von euch will’s heute wissen. Du auch, du kannst gar nicht anders. Hast dein Lauftempo auf die Sekunde genau vorher ausgerechnet, hast dir die Zwischenzeiten auf den Unterarm geschrieben, hast einen Plan. Doch dann passiert jedes Mal dasselbe, laufen die andern viel zu schnell los. Du hast dir vorgenommen, sie diesmal einfach nicht zu beachten, stur dein Tempo zu halten. Aber schon bist du selbst einer der andern und Teil des Problems – wer hätte je eine Stampede aufgehalten? Wenn du nicht mitziehst, treten sie dir die Hacken ab. Dreißig Kilometer später werden sie es büßen, aber das wissen sie jetzt nicht. Keiner weiß in diesen ersten Minuten wirklich was außer … daß er dabei ist, mittendrin im prallen, schnellen, wilden Leben.

Wer heute stehen bleibt, setzt sich morgen hin und sieht den fallenden Blättern zu, ist übermorgen tot. Du nicht. Solange du rennst, kannst du nicht sterben. Du kannst nicht einmal daran denken, der Tod ist schlechterdings undenkbar geworden. Wo andre fallende Blätter sehen, siehst du an einem Tag wie diesem nur Sonnenstrahlen, wie sie mit Macht durchs Geäst fahren. Ist es nicht großartig? Der Start, das Rennen, das Leben? Und hat es nicht gerade erst angefangen? Zigtausend Läufer können nicht irren, und wenn die Sonne tatsächlich mitspielt, sind diese ersten Minuten des Rennens so voller Energie, als wäre man gerade eben erst ein ganzer Kerl geworden und forever young.

Der Tod ist das große Skandalon des Lebens; seitdem ich schreibe, schreibe ich dagegen an. Und bin es oft genug selber, der sitzt und den fallenden Blättern zusieht. Habe ich Glück, packt mich die Wehmut darüber irgendwann so stark, daß ich’s gar nicht anders aushalte – und losschreibe. Es ist wie ein Startschuß, mit einem Mal löst sich all das, was sich in mir aufgestaut hat, und will so schnell wie möglich heraus, drängt mich beim Schreiben regelrecht voran. Das Tempo, in dem ich dabei loslege, ist hoch; ich büße es später, indem ich lange korrigieren muß, nicht selten jahrelang. Aber ohne diese ersten eruptiven Notationen hätte sich der Knoten gar nicht erst gelöst, wäre der Text überhaupt nicht entstanden. Dann wäre ich mit zugeschnürter Kehle sitzen geblieben. Im Leben eines Läufers fallen vergleichsweise wenig Startschüsse; im Leben eines Schriftstellers bleibt das meiste ungeschrieben. Dann gilt es, sich mit seiner Zuschauerrolle abzufinden und dem Leben zumindest auf stille Weise zuzujubeln.

Am schönsten ist der Start womöglich beim Berlin-Marathon, der ansonsten reich an Enttäuschungen ist. 40000 Läufer auf der Straße des 17. Juni, im Rücken das Brandenburger Tor und vor ihnen die golden schimmernde Siegessäule, das allererste Ziel, die allererste Belohnung. Schon vor dem Start ein Anblick, der in Worten nicht zu fassen ist. Dazu erstaunlich gute Rockmusik.5 Das gemeinsame Herunterzählen der letzten zehn Sekunden, die Weltgemeinschaft der Läufer beim Gebet. Dann der erste von drei Startschüssen, darüber plötzlich ein Geschwader an roten und weißen Luftballons. Oder war das in –? Egal, der Moment ist heilig, ob mit, ob ohne Luftballons. Und schon hörst du den Sound von 80000 Schuhen auf dem Asphalt, Weltmusik, die mit ihrem gnadenlosen Rhythmus noch den härtesten Rocksong übertönt. Aber ja, jetzt geht es ums Ganze. Du kannst es hören.

Vielleicht sind früher, sehr viel früher Armeen so zum Angriff übergegangen. Nun ist es die Weltgemeinde der Läufer, offensiv friedlich, und auch wenn sie sich schon nach wenigen hundert Metern wieder in lauter Individuen aufgelöst haben wird, die alle ihren eignen Kampf führen, so ist sie doch in diesen kostbaren Sekunden vereint. Berauschend großartiges Gefühl. Vorwiegend teilst du es mit deinesgleichen, sprich mehr oder weniger älteren Herrschaften. Als ob es einige Jahre, Jahrzehnte dauert, bis man sich an die Marathondistanz herangelaufen hat. Aber was heißt das schon, »älter«, und in welchem Alter beginnt das Ältersein genau? In der Sekunde des Startschusses seid ihr, ob 35, ob 65, alle gleich jung und unsterblich. Hartgesottne Marathonis6 erzählen nicht selten, daß sie mit Überschreiten der Altersgrenze von, sagen wir: M55 zu M607 eine bessere Plazierung erhofft hätten, sofern sie ihr Tempo würden halten können. Das Tempo hätten sie zwar gehalten, nur: Die Läufer über 60 seien noch ehrgeiziger als die unter 60, die Konkurrenz sei in der neuen Altersgruppe viel größer als in der früheren, man sei in der Plazierung sogar abgerutscht.

Und nun denk noch mal kurz an all die Wochenkilometer zurück, die du für diesen Tag der Tage heruntergelaufen hast. Stell dir deinen Kumpel Jörg vor und wie er das Phänomen während eurer Trainingsläufe gern auf den Punkt gebracht hat. Nämlich wenn du einen besonders guten Tag erwischt und das vereinbarte Lauftempo vergessen hast: »Der ist heut wieder nicht zu halten!« hat sich dann stets wer beschwert, denn nichts ist einer Laufgruppe so heilig wie das vereinbarte und über die gesamte Distanz einzuhaltende Tempo. Genau genommen war’s nicht irgendwer, der sich da beschwerte, sondern immer wieder und ausschließlich Seb, nicht wahr? Und er sagte auch nicht, daß du heut wieder nicht zu halten seist, sondern: »Mann, der geht heut wieder ab wie ein Zäpfchen!« »Laß ihn!« beschwichtigte Jörg dann jedes Mal scheinheilig: »Der ist ein paar Jahre älter als du, dem läuft die Zeit davon.« Heute freilich ist nicht Training, heute ist Wettkampf. Und da bist du es, der der Zeit davonläuft.

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