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Km 11

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Drogen, Doping, Paradies

Meist ist freilich gar keine Zeit für Haß und schlechte Laune. Derlei wird vom schieren Rhythmus der Bewegungen schnell ausgetrieben. Aber ist Abwesenheit von Ärger bereits Glück?

Peter hat beim Start zu seinem ersten Marathon vor Ergriffenheit geweint. Seb war nach drei glücklosen Marathons bei seinem vierten 42 km lang high, weil es endlich rundlief. Onkel sagt, er sei während des Laufens glücklich und danach selig. JP kennt zwar schon seit Jahren kein »Runner’s High« mehr, wohl aber die Entspannung danach.

Keine Frage, die Dusche nach dem Lauf ist eine ganz andre als die nach dem Aufstehen. Vor allem dann, wenn man eine Trainingseinheit überraschend gut absolviert hat. Nichts kommt der zufriednen Zerschlagenheit gleich, die sich nach einem 30 km-Lauf einstellt. Die Euphorie nach einem 5 km-Rennen wirkt noch am nächsten Tag.

Verantwortlich dafür sei die Stimulanz der Hormonproduktion, so die Sportmedizin. Nachgewiesnermaßen sei der Testosteronspiegel bei Läufern höher als im Durchschnitt. Aber ob ausgerechnet das glücklicher macht? Ein weiteres Erklärungsmodell: Die Reizung der Fußsohlen während des Laufens habe Auswirkungen auf sämtliche Organe einschließlich des Gehirns – man denke nur an die Fußreflexzonenmassage. Natürlich läßt sich auch die erhöhte Produktion von Adrenalin ins Feld führen; wer an seiner Leistungsgrenze trainiert, ist vor jeder harten Einheit durch Selbstzweifel und Versagensängste gut gestreßt. Welch eine Erleichterung, sofern es dann besser läuft als erwartet – der Lohn sind Sonderausschüttungen an Serotonin51 und Endorphinen, damit man länger durchhalten kann.

Die vielbeschworne Ausgeglichenheit der Läufer stellt sich nicht einfach so ein, durchs Laufen an sich. Im Gegenteil, die meisten Läufer, denen ich beim Laufen begegnet bin, machten kein glückliches Gesicht, sie wirkten eher konzentriert, nicht wenige sogar verbissen. Und erst recht im Rennen. Bei Km 11 ist noch gar nichts erreicht, das weiß jeder, auch falls es da bergab gehen sollte wie beim Hamburg-Marathon (den St.-Pauli-Fischmarkt hinunter) und die Schritte automatisch länger werden. Einer wie Jörg hat da seine ganz speziellen Glücksmomente, er applaudiert den Bands, ja, läuft ein Stück rückwärts, um sie länger im Blick zu behalten; er klatscht Kinder ab und läßt sich von ihren Müttern Haribo reichen. Aber nicht jeder ist so drauf wie Jörg. Die meisten nutzen die Gelegenheit, um hier einfach Strecke zu machen, schon halb zur Maschine geworden, die stur Kilometer frißt. Die Euphorie kommt frühestens im Ziel – und davor erst noch der Schmerz, durch den man sich ab Kilometer 30 kämpfen muß.

Die Serie solcher Selbstüberwindungserlebnisse, ob im Training oder im Rennen, macht süchtig. Laufen ist nichts andres als Produktion körpereigner Rauschmittel, sie wirken direkter, schneller und nachhaltiger als Alkohol, Tabak oder sonstwas. Versteht sich, daß man den Kick nur erhält, indem man die Dosis immer mal wieder erhöht – also weiter läuft oder schneller. Leider kommt man dabei irgendwann an seine Grenzen. Spätestens dann schlägt die Stunde der Nahrungszusätze, Energiedrinks und Powergels.52 Als ich mein erstes Gel während eines Halbmarathons nahm, konnte ich’s kaum fassen, wie mir wenige Minuten später die Flügel wuchsen. Leider habe ich mich längst an die Wirkung der Gels gewöhnt, ich nehme sie im Grunde nur noch, weil ich weiß, daß sie wirken.

Weil auch du, der Marschtabelle auf dem Unterarm folgend, nach 45 Minuten ein Gel genommen hast, kurz nach Km 8, müßte es jetzt wirken, vielleicht spürst du ja doch etwas? Oder du hättest es spüren können, vorhin, und es ist schon wieder durch? Oder es wirkt, gerade weil du nichts spürst, weil die Beine leicht sind und der Puls unten?

Um unsre Leistungsgrenze hinauszuschieben und dadurch weitere Glückserlebnisse zu generieren, kaufen wir immer großzügiger ein. Schließlich sogar Level X, ein sagenhaft überteuertes Proteinpulver, oder die entsprechenden No-name-Produkte, die von Drogerieketten in riesigen Dosen angeboten werden. Vor gar nicht so langer Zeit war das noch »Bückware«, und es waren lediglich Bodybuilder, die danach griffen. Hinzu kommen Magnesiumtabletten, Pulver für den Energiedrink während des Laufs, Pulver für den Regenerationsdrink danach, womöglich einen Ultrarefresher oder Regenerationsturbo,53 Proteinriegel oder Energieriegel auf Kohlehydratbasis, Energiegels, Gel-Chips,54 Energize Shots55 … Dies alles von verschiednen Marken, in verschiednen Zusammensetzungen und Geschmacksrichtungen, mit und ohne Koffein, damit man nicht so schnell fertig wird mit dem Ausprobieren. Denn das muß man natürlich, will man beim Rennen verläßlich wissen, was auf den Magen schlagen könnte und was nicht.56

Nein, Doping ist es nicht. Auf dem Weg dorthin sind wir mit dem einen oder andern Mittel allerdings schon – wären wir als Freizeitsportler bei diesem Thema nicht a priori außen vor. Dennoch hören wir Meldungen über »erwischte« Dopingsünder mit andern Ohren als zu einer Zeit, da wir einfach nur aus Lust drauflosrannten. Die Unschuld des Laufens haben auch wir längst verloren. Und uns dafür eine Art Pseudoprofessionalität zugelegt, in der wir uns wie »richtige« Athleten fühlen dürfen.

Wenn sich ein Großteil der Bevölkerung als Leistungssportler sieht – und diese Fehleinschätzung durch die Werbung auch ständig bestätigt bekommt –, boomt das Geschäft mit Brausetabletten, Pillen, Pulvern und Gels fast zwangsläufig. Die Hersteller wenden dabei denselben simplen Trick an wie bei der Vermarktung von Sportbekleidung: Sie versprechen uns mit ihren Produkten eine Steigerung der Leistung, sei’s unmittelbar oder über effizientere Regeneration. Damit haben sie uns. Gerade uns Männer. Wir vergleichen die auf den Packungen aufgelisteten Inhaltsstoffe mit einer Aufmerksamkeit, als litten wir an einer schwer zu kurierenden Krankheit, und in gewisser Weise tun wir das ja auch. Bis wir mit dem Sortiment durch sind, hat man längst neue Produkte auf den Markt geworfen.

Dieser sehr spezielle Läuferirrsinn findet in der Beschäftigung mit »gesunder Ernährung« sein notwendiges Pendant. Wo wir früher mit Lust drauflosgeschlungen haben, sehen wir jetzt überall unsichtbare Warntafeln; lesen Bücher über die richtige Lauf-Diät; achten auf angemessene Abfolge und Dosierung von Gewürzen, Mineralien, Vitaminen. Männer entwickeln als Läufer ein Ernährungsbewußtsein wie ansonsten allenfalls Frauen mit einer Eßstörung.

Täglich stellen wir uns die Frage, ob wir genügend Quark und Petersilie zu uns genommen haben, Zimt und Zwiebeln. Greifen freiwillig sogar zu Chilischoten und Leinöl. Brechen ohne Frühstück zu einem Dreistundenlauf auf, weil das die Fettverbrennung anregt; und in der halben Stunde direkt danach, in der Nährstoffe besonders intensiv im Körper aufgenommen werden,57 essen wir … trotzdem drei Teller Nudeln, auch wenn Carboloading neuerdings out sein sollte, auf irgendetwas muß man sich während eines langen Laufs ja auch freuen können. Sanddornsaft als Belohnung oder Schokolade mit 99 % Kakaoanteil ist nicht jedermanns Sache. Alkoholfreies Bier erst recht nicht. Wo andere in Fahrt kommen und ihre Art von Höhenflügen absolvieren, bleiben Läufer in Bodenkontakt.58 Immer nüchtern bleiben heißt bei manch einem auch: immer langweilig bleiben. Hält man zwei Jahre durch, hat sich der eigne Körper nachhaltig verändert. Der eigne Freundeskreis nicht minder.

Und irgendwann kommt man an den Punkt, wo man auf die Power-Spezialnahrungsmittel ebenso verzichtet wie auf all die Ergänzungsstoffe – oder wenigstens aufs Meiste davon – und versucht, sich wieder halbwegs normal zu ernähren. Der Punkt, wo man am liebsten ohne Stopuhr loslaufen würde, »einfach so«, ohne dabei all die Randparameter im Blick zu behalten, die uns die Sache selbst so oft zur Mühsal werden lassen. Und ohne all die kleinen Helferlein, die uns dann beistehen. Aber aus diesem Läuferparadies haben wir uns längst selber vertrieben und die Tür verriegelt, es bleibt uns bloß die Hoffnung, einmal um die ganze Welt herumzurennen und nachzusehen, »ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist«.59

Auf diesem langen Weg wäre dann nur immer wieder eines neu zu entscheiden: was die Energiespeicher am Abend vor einem Rennen am besten füllt. Traditionalisten schwören auf Nudeln, Kartoffeln, Reis. JP empfiehlt, sich seine normale Stulle zu schmieren, wie immer. Beim Rennsteig-Marathon gibt es die legendäre Kloßparty (Roulade mit Rotkohl und Thüringer Klößen) – die beste Pastaparty, die ich je erlebt habe.60

Auch während des Rennens bleibt die Verpflegung auf dem Rennsteig speziell, sogar Griebenschmalz- und Wurstbrote werden gereicht: total Old School, als ob all die Sporternährungsfibeln nie geschrieben worden wären. Und dann erst der Haferschleim, ebenso legendär wie die Kloßparty. An einem Versorgungsstand hatte ich im Vorbeirennen blind zugegriffen. Erkannte den Fehlgriff zu spät und, weil ich ja irgendetwas trinken mußte, tat, was ich unter den Augen von JP nie hätte tun dürfen: Ich probierte es einfach aus. Anders als bei Seb und dem Fritz-Cola, das er sich fünf Kilometer vor dem Ziel des Hamburg-Marathons gegeben hatte, ging es bei mir nicht in die Hose. Der Schleim war halb warm und zog lange Fäden. Aber er schmeckte. Und … wirkte! Fast wie ein Gel. Oder sogar besser? Beim nächsten Verpflegungspunkt griff ich wieder zu.

Am Ende ist alles graue Theorie und man kann sogar während eines Rennens essen und trinken, was man will? Seb meint, eine schöne Mitläuferin sei mindestens so leistungssteigernd wie ein Gel. Wenn er wüßte, daß er alle 45 Minuten eine schöne Frau vor sich sähe oder eine, die ihm vom Straßenrand aus zujubelt, er könnte einen Marathon ganz ohne Gel laufen.

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