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Km 3

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Himmelpforten

Das große Wir feiert sich selbst: All die Anspannung, die sich vor dem Start angestaut hat, sie entlädt sich in Geplapper, Gelächter, waghalsigen Überholmanövern. Die Musik spielt dazu. Man könnte glauben, auf einem Volksfest zu sein.

Kaum je setzt die Werbung der Veranstalter auf den sportlichen Charakter eines Marathons, stattdessen auf seinen Unterhaltungswert – zig Bands an der Strecke, das Fernsehen live dabei, Hunderttausende an Zuschauern. Toben und kreischen diese dann auch nur annähernd so wie die in London, werden 42,195 km durchgehend zur Bühne, und jeder, der sich darauf präsentiert, darf sich als jemand fühlen, dem die Massen zujubeln. Das muß man erlebt haben.

Muß man’s? Marathonläufer, die öfter an solchen Großereignissen teilgenommen haben, sehen den Event-Charakter eines Laufs nicht selten kritisch. Von den angekündigten 80 Bands an der Strecke hat Seb gerade mal 30 gezählt, und er habe auch all die Flöte übenden Mädchen und einen Hausfrauenchor mitgezählt. Onkel: Und dann der ganze Rummel um die Eliteläufer. Wenn man da an Himmelpforten denke …

Himmelpforten ist unser Zauberwort, mit dem jede Debatte beendet werden kann. Der Halbmarathon dort war das Gegenteil eines Events. Er war ein Ereignis. Himmelpforten ist ein Kaff jenseits der Elbe, etwa 60 km von Hamburg entfernt, und wenn der Winter lang und kalt ist und die Temperaturen auch am Wettkampftag unter Null liegen, kann man während der Anreise trefflich streiten, ob man überhaupt antreten soll. Wir traten an, und mit uns taten’s 35 weitere Männer und sieben Frauen. Der örtliche Sportverein hatte geladen, und wir wollten das Ganze als Testlauf angehen, ca. vier Wochen vor einem Marathon gehört ein Halbmarathon in jeden Trainingsplan. An der Startnummernausgabe mißmutige Erkundigungen, ob die Strecke überhaupt schnee- und eisfrei sei. Oder ob wir lieber Ketten anlegen sollten.17 Dann der Rennleiter auf der Hauptstraße des Dorfes, er zieht einen Kreidestartstrich quer vor unsern Schuhspitzen, hält eine kurze Ansprache: Richtig, Sportsfreunde, kalt sei’s auch heute. Auf der langen Geraden bergauf komme ein tüchtiger Gegenwind dazu. Dafür nach der Wende dann Rückenwind bergab, darauf sollten wir uns schon mal freuen. Ob wir bereit seien? Er hob die Pistole übern Kopf. Wir waren bereit. Es war das erste und wahrscheinlich letzte Mal, daß wir alle drei aus der ersten Reihe heraus starteten. Dann die Strecke des Grauens, aus dem Ort hinaus und durch die Felder, bergauf. Mit uns gestartet nur Lauftreff- und Vereinsläufer umliegender Ortschaften, hartgesottne Burschen, die uns alles abverlangten. Kein Zuschauer an der Strecke. Als Wendemarke am Berg ein Klapptisch, an dem die Nummern der Läufer notiert wurden. Zurück zum Vereinsgelände, dort ein Topf heißer Tee mit Zitrone, ungemein köstlich. Und dann die zweite Runde. Beim Zieleinlauf nicht mal eine Kreidelinie auf dem Boden, dafür ein weiterer Klapptisch, daran zwei Offizielle: Man mußte ihnen die eigne Startnummer zurufen, damit der eine auf die Stopuhr blickte und dem andern die Zeit diktierte.18 Die Siegerehrung danach in der Turnhalle: Selbstgebackner Kuchen für einen Euro das Stück, der Rennleiter ruft jeden Teilnehmer nach vorn, drückt ihm die Hand, überreicht ihm seine Urkunde. Jeder ein Sieger heute, jeder ein König.

Größtmöglicher Gegensatz dazu: der New-York-Marathon mit tagelanger Vorab-Animation. Genau genommen fängt es schon Monate zuvor mit einem Mail-Bombardement der New York Road Runners an, jeden zweiten Tag stellen sie als Veranstalter eine Wundertüte an guter Laune, frischer Luft und Gesundheit in die Eingangsordner der registrierten Teilnehmer. Ob sie dann im weiteren Verlauf der Mail die Marathon-Schmuckkollektion von Tiffany anpreisen oder einen ihrer zahllosen Charity-Läufe, am Ende geht es stets darum, den Läufern Geld aus der Tasche zu ziehen.19

Ja, auch der New-York-Marathon wird vom örtlichen Sportverein ausgerichtet. Aber überschlägt man zum Beispiel, daß 2013 die Startgebühr für Ausländer 415 Euro betrug20 und daß von den 50740 gemeldeten Startern mindestens die Hälfte aus dem Ausland kam, dann ist bereits ohne Berücksichtigung der einheimischen Starter klar, daß ein Marathon der »Major Six«21 vor allem eines ist: Big Business. Entsprechend bombastisch ist das Setting des Ganzen, von der »Parade of the Nations«, der Eröffnungszeremonie im Central Park mit abschließendem Feuerwerk, über den »5k Dash to the Finish Line«, einen Lockerungslauf am Vortag des Rennens, bei dem bereits Zehntausende mitmachen,22 bis hin zur Pasta Party im Schichtbetrieb. Dann das riesige Areal, das auf Staten Island als Starterbereich eingerichtet ist, überhaupt schon die Transportlogistik, die bis spätestens 7 Uhr morgens dafür gesorgt haben muß, daß alle Läufer ebendorthin chauffiert wurden23 … und so geht’s weiter, (angeblich) 135 Musikbands an der Strecke24 und Celebrities wie Pamela Anderson oder Christy Turlington auf der Strecke,25 Tausende an Helfern, an die 25 Verpflegungsstationen, alles perfekt organisiert bis zum ernüchternden Zieleinlauf und der ganz und gar rüden Art, mit der man danach von den Ordnungshütern weitergescheucht wird zur Kleiderbeutelabholung, »keep moving, keep moving«, und auch von dort gleich weiter, hinaus aus dem Central Park. Der einzelne Läufer ist nur Mittel zum Zweck, was wirklich zählt, ist die Choreographie der Massen, ist die Show. Klar, das trifft mehr oder weniger auf jeden professionell durchgeführten Großstadtmarathon zu. Aber nirgendwo ist es so schmerzhaft deutlich zu spüren wie in New York. Statt eines Händedrucks gibt es tagsdrauf immerhin die New York Times mit einer Extra-Beilage, in der die Ergebnisliste bis zur Zielzeit 4:40 abgedruckt ist.

Keine Frage, New York ist das Mekka für jeden, der einmal im Leben bei einem ganz großen Marathon dabeigewesen sein will. Vielleicht ist Himmelpforten dann aber so was wie das Medina des Straßenlaufs. Zwischen beiden Extremen liegt unsre Welt, wie wir sie tagtäglich nicht nur beim Laufen, sondern in vielen weiteren Lebensbereichen erleben – zwischen regionalem Ereignis und globalem Event, Authentizität und Spektakel, Händedruck und Goodies-Tüte irgendwelcher Großsponsoren. Weil man das aber begrüßen, achselzuckend hinnehmen oder verdammen kann, werden wir auch in Zukunft nach jedem Rennen streiten, ob’s nun zuviel in die eine Richtung ging oder zuwenig in die andre. Majorna: »Ein Großstadtmarathon pusht einfach mehr als so ’n trostloser Parcours übers leere Land!« JP: »Nicht jeder! Paris zum Beispiel zieht dich richtig runter, dort gibt’s überhaupt keine Stimmung.« Marion: »Wenn du auf PB laufen willst, kannst du die Dorfrennen genauso vergessen wie die Großevents, dann mußt du in ’ner mittleren Stadt antreten, Essen zum Beispiel.« Bis einer von uns den Finger hebt, »Also ich sage nur …«, und für Ruhe sorgt. Himmelpforten ist und bleibt unser Zauberwort.

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