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Km 9

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Zwischen den Kriegen

Bis zum 15.4.2013 wurde jeder Stadtmarathon in den Medien stereotyp vollmundig als friedliches Großereignis präsentiert, das Zig-, wenn nicht Hunderttausende an Zuschauern mit den Läufern … aber ja, feierten. Mit dem Anschlag im Zielbereich des Boston-Marathons (3 Tote, 264 Verletzte) war’s damit erst mal vorbei.

Der Überlebende der beiden tschetschenischen Attentäter gab danach zu Protokoll, sie hätten mit ihrer Tat »den Islam verteidigen wollen«. Auch ohne diese Aussage hat man den Anschlag sofort als Terrorakt von Fundamentalisten verstanden. Deren dezentral geführter Krieg gegen die westliche Welt hat mit den Bomben von Boston – neben dem öffentlichen Nahverkehr, der Schule, dem Flughafen, dem Büro- und dem Einkaufszentrum – einen weiteren Schauplatz unsres Alltagslebens als Schlachtfeld markiert. Schon eine Woche danach waren die Konsequenzen spürbar, bei den Marathons in London und Hamburg, obwohl die Veranstalter betonten, die weltweite Läufergemeinschaft werde sich ihren Sport (und das darin verkörperte völkerverbindende Lebensgefühl) durch Terror nicht kaputtmachen lassen. Nein, kaputtgemacht wurde er nicht, das läßt sich mittlerweile sagen. Verändert hat er sich aber schon.

Das konnten wir in London am 21.4.2013, gerade mal sechs Tage nach dem Attentat, noch nicht so recht erfassen. Jeder, mit dem man auf der Marathonmesse ins Gespräch kam, war vor allem froh, daß man den Lauf nicht abgesagt hatte; einen erneuten Anschlag befürchtete so schnell keiner. Irgendwann jedoch sehr wohl! Betont lässig lagerte man anderntags rund um die Kleiderbeutelabgaben; von der fröhlichen Aufgeregtheit, wie sie bei Großstadtmarathons ansonsten vor dem Start zu spüren ist, keine Spur. Nach 30 Schweigesekunden ging’s an den Start. Wir liefen mit Trauerschleife, am Vorabend aus dem schwarzen Band gebunden, das man bei der Startnummernausgabe bekommen hatte. Ja, dies kleine Symbol war uns wichtig, wir wollten »für Boston laufen«, wie die Parole seit Tagen lautete, »Boston strong«, und wir taten es dann ja auch: ein Marathon, noch dazu einer der größten weltweit, als Demonstration, das hatte es bis dato noch nicht gegeben.

Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken – diese Frage hatte unverhofft eine weitere Antwort bekommen. Während wir in London von den erhöhten Sicherheitsvorkehrungen (die’s natürlich gab) nichts mitbekamen und im Zielbereich dann keinen Gedanken mehr daran verschwendeten, daß sich das Verbrechen von Boston wiederholen könnte, wurden wir ein halbes Jahr später, beim New-York-Marathon am 3.11.2013, recht rüde belehrt, daß die Zukunft des Straßen- und Volkslaufs nurmehr mittels paramilitärischer Großeinsätze gesichert werden konnte: Schon auf der Marathonmesse wurden am Eingang Taschen und Ausweise kontrolliert. Am Samstag, Vortag des Rennens, erhöhte sich die Polizeipräsenz am Central Park drastisch; abends standen viele Sicherheitsbeamte sogar in den Foyers der Hotels: Der ganze Central Park South (sozusagen die Zielgerade des Marathons) hatte sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt, in dem man auf Schritt und Tritt beobachtet wurde.

Dann der Sonntag. Von den Schiffen der Küstenwache, die den Fähren nach Staten Island (mit einheimischen Läufern an Bord, die zum Start wollten) mit aufgepflanztem Maschinengewehr Geleitschutz gaben, erfuhr ich erst tagsdrauf aus der Zeitung.48 Aber auch die Kontrollen an den Eingangsschleusen zu Fort Wadsworth, dem riesigen Starterbereich, waren martialisch – so einschüchternd, als passiere man einen Checkpoint auf dem Weg ins Sperrgebiet: Jeder Läufer wurde einer Leibesvisitation unterzogen, sein Kleiderbeutel mit Metalldetektoren überprüft, Läufer wie Beutel von Polizeihunden beschnüffelt. Absurderweise mußten Schlafsäcke, Isomatten und dergleichen am Eingang abgegeben werden, »For your own safety«, wie Nachfragen im angloamerikanischen Bereich dann immer abgeschmettert werden. Halden an Decken neben den Eingängen des Forts; drinnen, hinter den Absperrungen, froren sich 50000 Läufer drei bis vier Stunden dem Startschuß entgegen.

Der Start mit dem Lauf über die Verrazano Bridge dann geradezu filmreif in Szene gesetzt mit zwei Helikoptern, die beidseits der Brücke in der Luft »standen«, um sie zu sichern. Das Publikum über die gesamte Länge des Marathons mit blauem Polizeiband von der Strecke abgesperrt, ein 42 Kilometer langer Tatort. Von den 1500 Polizeikameras, die das alles überwachten, erfuhr man als Läufer erst im nachhinein, wie auch von dem Bataillon Polizeihunde, das ununterbrochen patrouillierte und nach Sprengstoff schnüffelte. An jedem Häuserblock ein Polizist, rund um den Zielbereich am Central Park South dann der reinste Polizeistaat. Die Absperrungen so perfekt, daß kaum ein normaler Zuschauer auch nur in die Nähe des Zieles kam – niemals war ein Zieleinlauf trostloser als dieser vor fast leeren Tribünen.

Kaum hatte man die Medaille um den Hals, hieß es nur noch »Move on, move on«, bis zur Kleiderbeutelrückgabe. Und obwohl’s zehn Meter zuvor einen Weg gab, der seitlich abzweigte und mir einiges an Heimweg erspart hätte, durfte ich nicht umdrehen und diese zehn Meter zurückgehen – for your own safety, aber natürlich!

Nach einem weiteren Kilometer endlich ein Ausgang aus dem Park, dann der Weg zurück zum Columbia Circle, die Menschenströme auch hier so eng kanalisiert und so weiträumig um den brisantesten Punkt der gesamten Veranstaltung herumgeführt … daß man den Marathon diesmal erst nach gefühlten 50 km erschöpft in einem Hotelsessel beenden konnte. Feierstimmung wollte danach nicht aufkommen.

Anderntags brach eine Debatte in den Medien los, ob die Sicherheitsvorkehrungen nicht vielleicht etwas zu streng gewesen wären und das Ereignis auf ihre Weise kaputtgemacht hätten. Hatten die Attentäter von Boston etwa ihr Ziel erreicht? Leben wir auf diese Weise denn wirklich noch im Frieden? Mittlerweile sieht es so aus, als würde da und dort auf der Welt wieder gefeiert, wenn man sich zum Großstadtmarathon trifft; die naive Unbeschwertheit, mit der man früher in ein Rennen ging, ist und bleibt jedoch verloren.

Daß sich schon kurz nach »Boston« einer hingesetzt hat, um aus den Ereignissen ein Buch zu machen, zwei andre ans Drehbuch für einen Film, das ist die Kehrseite meiner New Yorker Marathon-Medaille 2013. Genau besehen, hat sie zwei Kehrseiten. Jede markiert auf ihre Weise ein Extrem, mit dem wir leben müssen.

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