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Km 5

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Die blaue Linie

Wehmut ist bei einem Rennen so ziemlich das letzte, was man empfindet. Im Gegenteil, ihr könntet fast ein bißchen wütend werden, weil sich das Feld noch immer nicht sortiert hat. Weil ihr nach wie vor in haargenau derselben Kohorte lauft, in der ihr gestartet seid. Ganz außen am rechten Rand, ihr hattet euch ausgerechnet, dort etwas mehr Bewegungsfreiheit zu haben. Die habt ihr keineswegs, außerdem müßt ihr in jeder zweiten Kurve weite Wege gehen, das kostet wertvolle Sekunden. Wo ist eigentlich die blaue Linie?

Die blaue Linie kann zur Obsession werden. Ich liebe sie, suche sie während eines Marathons ständig im Blick zu behalten. Seb findet das grotesk, fordert mich selbst bei unsern Trainingsläufen gern auf, die blaue Linie zu laufen, im Duvenstedter Brook zum Beispiel oder in den Harburger Bergen. Onkel lacht mich einfach nur aus. Jörg findet sie überbewertet. Ilka hält sich dran und läuft eine PB nach der andern.

Die blaue Linie. Majorna findet sie vor allem schön, sie mache einen selber so wichtig.34 Peter empfindet sie als zusätzliche Motivation, man brauche sich ihr nur anzuvertrauen, sie sei der von der Rennleitung für uns alle vorgezeichnete Weg zum Erfolg. Wohingegen sie in andern Bereichen – beruflicher Werdegang, Liebesleben usw. – vollkommen unsichtbar sei, dort könne man sie nur erahnen, liege meist falsch, müsse ständig neu nach ihr suchen. Peter will damit nicht mehr und nicht weniger sagen als: Das Leben spiele oft mit gezinkten, ein Marathon hingegen stets mit offnen Karten, er zeige jedem, wie er idealerweise gerannt werden will. Wer sich nicht daran halte, sei selber schuld, seine Zielzeit nichts andres als die faire Quittung dafür, wie er sich seit dem Startschuß verhalten habe. Wohingegen das Leben jenseits des Marathons …

In jedem Fall ist die blaue Linie für alle ein klare Ansage. Spätestens am Vorabend des Rennens wird sie von der Rennleitung über die gesamte Länge der Strecke gezogen, sie stellt – sofern man nicht verbotnerweise über Bordsteinkanten oder Verkehrsinseln läuft – die kürzeste Verbindung zwischen Start und Ziel dar.35 Damit ist sie nichts Geringeres als das Prinzip des Marathons. Seine sichtbar gewordene Idee.

Natürlich tritt sie nur bei einem Stadtlauf in Erscheinung, und selbst dort im seltensten Fall komplett durchgezogen. Sondern in regelmäßigen Abständen auf den Straßenbelag gesprüht, die ersten Kilometer nach einem Massenstart wird man sie bestenfalls bemerken, falls man zufällig direkt auf ihr läuft.36 Trotzdem sollte man bereits hier die Augen offen halten. Nur wer die ganze Strecke über auf dieser Ideallinie bleibt, ist tatsächlich am Ende 42195 m gerannt und keinen einzigen Meter zuviel. Doch wer von uns kann das schaffen? Wir sind keine Spitzenläufer, wir laufen die ersten Kilometer im Pulk und viele weitere Kilometer im dicht besetzten Feld. Im Ziel zeigt unsre Uhr stets eine Streckenlänge an, die wir gar nicht hätten laufen müssen, mein Rekord liegt bei 42,97 km.

Um ein Haar hätte Seb die blaue Linie doch noch zu schätzen gelernt. Er hatte während des London-Marathons plötzlich Probleme mit seiner Hüfte, mußte das Tempo drosseln und kam mit der denkbar unglücklichen Zeit von 4:01:15 ins Ziel. Wenn es etwas gibt, das den »ambitionierten Freizeitläufer« so richtig um- und antreibt, dann ist es die Vier-Stunden-Hürde. Sie zu nehmen, träumen viele vergeblich. Seb war einige Tage lang eine tragische Figur, obwohl er sich tapfer einzureden suchte, daß 4:01 de facto fast dasselbe sei wie 3:59. Aber eingedenk der Tatsache, daß er Monate trainiert hatte, um am Ende 76 Sekunden zu langsam zu sein, war es ganz und gar nicht dasselbe. Schließlich kam ihm die rettende Idee: Seine GPS-Uhr hatte den Londoner Lauf mit 43,1 km festgehalten. Er mußte bloß noch ausrechnen, was er netto für 42,195 km gebraucht hatte – nämlich gebraucht hätte, sofern er die blaue Linie gelaufen wäre –, schon kam er unter vier Stunden.

Einige Wochen später stellten wir allerdings fest, daß die Meßgenauigkeit unsrer Uhren zu wünschen übrig ließ. Sogar Modelle des gleichen Herstellers zeigten nach gemeinsamen Läufen um mehrere hundert Meter voneinander abweichende Streckenlängen an. Höchste Zeit, auch das Kleingedruckte in der Gebrauchsanweisung unsrer Uhren zu lesen! In meinem und Sebs Fall einer Polar RC3; unter »Technische Spezifikationen« fanden wir den Passus, daß die GPS-Genauigkeit dieser Uhr bei ±2 % liegt. Das entspricht auf der Länge von 43,1 km gerade mal … herrje, das entspricht immerhin 862 m. Womit Seb also auch nur 42,238 km gerannt sein könnte – was der offiziell vermessenen Marathondistanz leider schon sehr nahe kommt. Mindestens die verbleibenden 43 Extra-Meter dürfte er wirklich gerannt sein, und zwar … ganz genau, weil er nicht permanent auf der blauen Linie bleiben konnte. Oder wollte. Wie man die Berechnung auch dreht und wendet, unter vier Stunden Zielzeit kommt man damit nicht mehr.

Eine besondere Pointe bekam Sebs Berechnung ein Jahr später, als wir am Vortag eines Marathons zufällig mit einem offiziellen Streckenvermesser ins Gespräch kamen. Er erzählte uns, was wir zunächst gar nicht glauben wollten: Bei der Vermessung eines jeden Marathons gebe man pro Kilometer einen Meter dazu, als Sicherheitsreserve, falls man sich irgendwo vermessen hätte. Weil dann nach Überprüfung der Strecke die Ergebnisse trotzdem weiterhin gültig bleiben könnten. Heißt nichts anderes als: Jeder Marathon ist – mindestens, sofern man ihn nämlich konsequent auf der blauen Linie laufen kann – 42 m länger als 42,195 km, jeder! Vielleicht hatte Seb in London also das Kunststück fertiggebracht und war konsequent die blaue Linie gelaufen, und seine Uhr hatte die Strecke auf einen Meter genau – ±2 %! – angezeigt?

Wie auch immer, beim Marathon kann man nicht mal sich selber in die Tasche lügen, das ist der Unterschied zum Leben. Ein amtlich vermessener Parcours bleibt trotz GPS ein amtlich vermessener Parcours, die blaue Linie sein für alle sichtbarer Garant. In manchen Städten wird sie sofort nach offizieller Beendigung des Rennens weggeschrubbt; in andern – wie in Hamburg – bleibt sie einfach bis zum nächsten Jahr. Ein schöner, mitunter erhebender Moment, wenn man im Alltag da oder dort wieder auf sie trifft. Auf der Hausstrecke der Hamburger rund um die Außenalster läuft man auf Geh- und Spazierwegen sogar drei Kilometer lang parallel zu ihr. An einer Stelle, Km 18 des Marathons und also vollkommen unspektakulär, kommt man – kann das Zufall sein? – direkt am Hamburger Literaturhaus vorbei. Während eines Laufs wird man dort kaum anhalten; doch es gibt ja andre Gelegenheiten, es zu betreten. Jedes Mal, wenn ich’s tue, verfalle ich kurz ins Grübeln darüber, wie knapp sich diese beiden Welten schon immer verfehlt haben und auch jedes weitere künftige Jahr verfehlen werden. Ich schätze, die meisten, die dort ein und aus gehen, bemerken die blaue Linie gar nicht. Und die wenigen, die’s tun, wissen nicht, was sie bedeutet. Es wäre ihnen wohl auch egal.

42,195

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