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Digits

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Meilensteine auf dem Weg aus dem Rechtsstaat

Es gab einmal eine Zeit, da schrieb man Briefe auf Papier. Zuerst mit der Hand, später mit Schreibmaschinen und Computern. Für Briefe gilt das Briefgeheimnis. Niemand in der Bundesrepublik kam auch nur auf die Idee, ganz nebenbei sämtliche Briefe zu öffnen und durchzulesen. Wer vom Rechtsstaat weniger hielt, öffnete die Briefe in mühsamer Handarbeit ohne richterliche Erlaubnis. Die dafür zuständigen Einrichtungen nannten sich zum Beispiel Gestapo oder MfS.

Die Zeit der Briefe geht zu Ende. Analoge Worte werden durch digitale Signale ersetzt, die als Mail, Blog oder ähnlichen Techniken den Empfänger erreichen. Der elektronische Brief. Aber nicht nur der Begriff für den Brief ändert sich: Aus Verletzung des Briefgeheimnisses wird eine harmlose Vorratsdatenspeicherung. Geheim operierende staatliche Behörden öffnen millionenfach die (elektronischen) Briefe und lesen mit. Sie lesen, wer seinen Partner hintergeht. Sie lesen, wem gekündigt wird. Sie lesen die Diagnose auf den elektronischen Krankenunterlagen. Sie lesen den Beitritt zur richtigen oder falschen Partei. Sie können einem leidtun. Lesen ohne Sinn und Nutzen. Immer nur auf das Signalwort achtend. Wenn sie Glück haben, lässt dann ein nicht herausgefilterter Bombenleger wieder einmal seinen Koffer am Bahnhof stehen: Dann gibt es noch mehr Datenfutter. Kontobewegungen, Fingerabdrücke, Augenabstand des Säuglings, lebenslange Steuernummer. Und wenn kein Koffer stehen bleibt, wird eben nur vor einer nahen und konkreten Gefahr gewarnt. Ergebnis identisch.

Und alles ohne Richter, automatisiert, kraft Gesetzes, ohne Einzelfallprüfung, ohne begründeten Verdacht. Im Rechtsstaat. Der Richter wird mit Blutproben alkoholisierter Autofahrer beschäftigt und zum Nachtwächter für Trinker degradiert.

Es gab einmal eine Zeit, da kam ein Vertrag durch übereinstimmende Erklärungen der Vertragsparteien zustande. Schriftlich leicht, mündlich nur schwer beweisbar. Kinder waren geschützt, ihre Erklärungen wurden weder ihnen noch den Eltern zugerechnet.

Die Zeit der Erklärungen und schriftlichen Verträge geht zu Ende. Analoge Unterschriften werden durch Zahlentasten am Telefon, durch Buttons und Klicks am Bildschirm ersetzt. Der elektronische Vertrag. Aber nicht nur die Form ändert sich, das ganze Vertragsrecht erleidet eine tektonische Verschiebung weg von der Sicherheit des Rechtsstaats für den Bürger. Egal ob Kind oder Katze mit der Maus spielt, der erwachsene Anschlussinhaber soll Vertragspartner sein. Schließlich ist er selbst schuld, wenn er im virtuellen Leben noch reale Kinder großzieht.

Es gab einmal eine Zeit, da gab es ein Bankgeheimnis. Nur mit richterlichem Beschluss konnte der Staat auf Konten und Kontoauszüge zurückgreifen. Wer Sparbücher oder Kontobelege stahl, wurde bestraft.

Heute stehen keine Auszüge mehr im Regal. Stattdessen liegen die Digits auf dem Server. Ein Klick, und sie sind kopiert. Noch ein Klick, und sie sind verkauft. Für Millionen. Millionen unversteuertes Geld des Rechtsstaats. Wer Täter war, wer Anstifter, alles bleibt im Dunkeln. Ob alle Daten genutzt werden, niemand weiß es. Kein Richter. Kein Staatsanwalt. Nur der Bundesnachrichtendienst. Und der Finanzminister, Mitglied einer Partei, nicht der anderen Partei. Beschlagnahme durch Richter wegen Anfangsverdacht? Das war gestern. Heute kauft der Bundesnachrichtendienst – gesetzliche Aufgabe: Auslandsaufklärung zur Abwehr von Gefahren für den Staat – des Bürgers Kontoauszüge auf, die einen ins Töpfchen, die anderen ins Kröpfchen. Hat er eigentlich nur gekauft oder gar selbst bestellt?

Es gab eine Zeit, da nutzte man Landkarten. Wer wollte, durfte und konnte legal in die Karte die Starenkästen am Straßenrand einzeichnen, in denen immer wieder Kameras zur Geschwindigkeitsüberwachung montiert waren. Meist an vierspurigen Ausfallstraßen, immer in der Nähe einer Schule, angeblich.

Heute sind die Karten digitalisiert. Und kaum sind die Digits auf dem Speicherchip gelandet, meldet der Rechtsstaat Bedenken und Geldforderungen an: Ein Radarwarner soll das sein. Man muss den Unsinn nur oft genug wiederholen, irgendwann wird es geglaubt. Radarwarner? Schlichter Unfug. Der Chip erkennt keinen Radarstrahl, er kennt lediglich wie die analoge Karte den Standort eines „Starenkastens“. Er weiß nicht einmal, ob er gerade bebrütet wird.

Früher wurden Anträge von Hand bearbeitet. Wurde langsam gearbeitet, dauerte es länger. Heute wird gar nicht gearbeitet, man wartet auf Software. Wo? Natürlich dort, wo der Bürger Ansprüche hat. Bei der Erstattung ein Jahr lang zu viel einbehaltener Steuer. „Können wir nicht bearbeiten. Der Rechenlauf fehlt noch. Alternativ: Die Software fehlt noch.“ Was fehlt, sind die Digits. Sie sind aber nicht weggelaufen. Sie wurden nicht geschaffen. Bewusst erst verspätet geschaffen.

(2013)

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