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Arbeiter im Weinberg

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Ein Vater hatte zwei Söhne und besaß einen Weinberg. Vor Jahren schon hatten die Söhne den Gutshof verlassen. Früher jedoch, als sie noch jung waren, mussten beide mitarbeiten, wenn es darum ging, für die Zukunft einen neuen Weinberg anzulegen. Er hatte die Söhne seinerzeit gerecht entlohnt. Unterschiedlich, aber doch gerecht. Zumindest wollte er sie gerecht bezahlen.

Wenn der Vater viele Jahre später, nun schon als weiser Greis, auf die Zeit zurückblickte, in der beide Söhne im Weinberg gearbeitet hatten, vermeinte er jedoch ein Rumoren in seinem Gewissen zu verspüren.

Nun, im hohen Alter, gestand er sich ein, dass beide mit ihrer Arbeit die Grundlage für gute Weinlesen gelegt hatten. Er konnte, wenn er das Etikett auf den Flaschen, die ihm der Kellermeister brachte, nicht betrachtete, selbst nicht mehr unterscheiden, aus wessen Sohnes Pflanzungen der gleichermaßen edle Tropfen stammte. Die Arbeit der Söhne hatte, wie er nun erkannte, denselben Wert gehabt.

Die Arbeit des Jüngeren, der nicht schnell genug beginnen konnte, der seine Arbeit schnell erledigen wollte und der immer noch, letztlich wertlos, ein bisschen mehr um die Pflanze herumgehäckelt hatte, noch ein Drähtchen mehr verbaut hatte, damit die Pflanze noch zwei Grad senkrechter stand. Er hatte sich von dieser Arbeitsweise damals beeindrucken lassen und hatte die von ihm als sehr gut erachtete Arbeit fürstlich entlohnt.

Die Arbeit des Älteren dagegen empfand er zeitweise als Zumutung. Spät begonnen, gerade noch rechtzeitig und immer nur das Nötigste. Es war ausreichend, was er vollbrachte, manchmal auch recht gut und insgesamt schon zufriedenstellend. Aber er hatte hierfür ein perfides Lohnsystem erfunden: Empfand er die Arbeit sehr gut, addierte er Lohn auf, empfand er sie nur ausreichend, zog er wieder ab, für zufriedenstellende Arbeit verrechnete er vorsorglich nichts.

Als er sich dann bei der zweiten Verkostungsrunde an das Resultat seiner Lohnordnung erinnerte, hätte er sich fast gar verschluckt: Gerade ein Zehntel hatte er dem duldsamen Älteren gewährt. Und doch war, wie ein weiteres Glas bestätigte, die Arbeit nachhaltig betrachtet, gleichwertig gewesen.

Als er sich dies eingestanden hatte, waren ihm sogar Gewissensbisse gekommen. Nein, er war immer ehrlich, hatte sein Wort gehalten. Keiner konnte sich beklagen. Seine Regeln waren bekannt, er hatte nie dagegen verstoßen. Und dennoch: War es richtig, dem jüngeren Sohn dank seines selbst formulierten Regelwerks den vielfachen Lohn zu geben?


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