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Allerseelen

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Die Dämmerung kriecht ins Tal. Erst langsam, dann immer schneller, unaufhaltbar. Berge und Tal verschmelzen zur Dunkelheit. In den Fenstern der Häuser gehen die Lichter an, Lichter im Leben. Orange Strahler werden eingeschaltet und langsam heller. Dann erstrahlen Fassaden von Burg und Kirche. Die Kirche selbst ist dunkel. Nur ein ewiges Licht schimmert durch das Fenster.

Vor der Kirche Kieswege. Dazwischen weiße Grabsteine. Steine mit Namen, Zahlen, Bildern. Steine als Bericht über verflossenes Leben. Steine der Erinnerung.

Hinter der Kirche nachtgrüner Rasen. Dazwischen zahllose Kreuze. Schwarze Kreuze aus Metall. Im Feuer geschmiedet für die Nachwelt, für die Ewigkeit. Kreuze in unterschiedlichen Kreuzformen. Kreuze in Strahlenform. Verzierte Kreuze, scharf gezeichnet vor dem nachtblauen Himmel. Himmel mit der Resthelligkeit der Vergangenheit, Resthelligkeit der hier schon untergegangenen Sonne. Einer Sonne, die nicht untergeht. Die morgen wieder aufgehen wird. Die untergeht und zugleich aufgeht. Die die Dunkelheit wieder durch Licht ersetzt. Tod durch Leben.

Den ganzen Tag zuvor waren die Lebenden bei den Toten. Haben am Grab gearbeitet. Für irdische Ordnung am Tor zum Jenseits. Für Schmuck gesorgt für diejenigen, die ihn nicht mehr benötigen. Aber die Lebenden brauchen ihn, zum Zeichen des Gedenkens, zum Ausdruck von Dankbarkeit.

Sie haben kleine und große Lichter aufgestellt, Kerzen in weißen und roten Gläsern. Zum Abschluss ihrer sorgenden Mühe haben sie die Kerzen angezündet. Ohne ihren Schein zu sehen, bei Tageslicht, zeitig vor dem Vesper, dem Besuch des Gasthofs, der ruhelosen Rückkehr ins rastlose Reich der Lebenden.

Doch nun ist es dunkel. Außerhalb des Friedhofs. Denn dort leuchten sie nun, hunderte Kerzenlichter in weißem und rötlichem Licht. Vier, fünf oder mehr Lichter auf jeder der kleinen Grabstätten. Jedes Licht eine Verbindung des Toten zu einem noch Lebenden. Sie leuchten in die Nacht, machen die Kreuze sichtbar. Sie leuchten allein, die Lebenden sind schon weg. Sie haben keine Zeit, das Zeichen der Hoffnung, das helle Licht in der dunklen Nacht zu sehen. In der Nacht von Allerheiligen auf Allerseelen.

(2013)


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