Читать книгу Essays - Matthias Sprißler - Страница 9

Bitzlemann

Оглавление

Die Kirche von Lustnau steht nur leicht erhöht im Neckartal. Wandert man heute von der Lustnauer Kirche stets steil bergan, erreicht man nach einer Wegstunde die Ortschaft Pfrondorf. Auf halber Strecke führt der Weg an einer steilen Schlucht entlang durch dichten Laubwald. Hier in dieser Schlucht lebte einst, will man den Erzählungen alter Frauen aus Pfrondorf Glauben schenken, der Bitzlemann.

Es war ein kalter Wintertag im Januar des Jahres 1831. Vor zwei Tagen war der alte Findeisen gestorben. Die noch viel zu junge Witwe trug seither schwarze Kleidung, auch wenn sie im Innern froh war, dass der Alte endlich loslassen durfte. Nur das Begräbnis bereitete ihr Sorgen. Wie oft schon hatte sie als Kind und auch später noch vom Bitzlemann gehört. Groß soll er sein, dunkel im Gesicht, von Fell bedeckt. Gefährlich und unbesiegbar. Immer wieder soll er sich eine Leiche geraubt haben, meistens die besonders kalten Toten des Winters. Leichtes Spiel habe er gehabt. Da die Pfrondorfer bisher an einem eigenen Friedhof ebenso sparten wie an einer eigenen Kirche, mussten die Toten den Berg hinunter, entlang der tiefen Waldschlucht, nach Lustnau befördert werden. Der Totengräber von Lustnau hatte sich schon seit vielen Jahren geweigert, die Toten von Pfrondorf nach Lustnau zu holen. Er wusste genug, wusste, dass dort im Wald der Bitzlemann hauste, ein Verwandter des Teufels selbst. Er wusste dies, seit sein eigener Vater, auch er schon Totengräber, von einem Leichentransport kurz nach Neujahr nie mehr zurückgekommen war. Erst im Frühjahr hatten Holzfäller die zerschlagenen Reste seines Schlittens gefunden. Tief unten, am Grund der Waldschlucht. All dies ging der jungen Witwe seit Stunden durch den Kopf. Aber sie hatte keine Wahl, sie musste fahren. Mit Hilfe eines Nachbarn hob sie den Leichnam auf einen großen Schlitten und band ihn fest. Schweren Schrittes und mit Herzklopfen zog sie ihn aus dem Dorf hinaus. Sie sah die Dörfler an ihren Fenstern stehen, sah manchen gar sich noch bekreuzigen. Wie wenn sie selbst des Teufels wäre. Am Rand der Hochebene musste sie aufsitzen. Sie hatte keine andere Möglichkeit, als sich auf die steifen, langsam gefrierenden Beine des Toten zu setzen. Ihr schauderte. Ein kurzer Antritt reichte aus, um den Schlitten zu beschleunigen. Langsam aber stetig fuhr er über den Feldweg nach unten auf den Waldrand zu. Dort begann das steilste Stück, hinunter zum Rand der Schlucht, dann in einer leichten Kurve wieder aus dem Wald hinaus. Schon kurz nach Einfahrt in den Wald bemerkte sie die Veränderung: Der knirschende Schnee wurde weniger, immer glänzenderes und glatteres Eis bedeckte den Weg. Sie versuchte zu bremsen, vergeblich. Sie versuchte zu lenken, unmöglich. Dann sah sie das leere Holzfass am Wegrand, aus dem die letzten Wassertropfen gefrierend auf den Weg liefen. Das muss er gewesen sein, der Verwandte des Teufels, der Bitzlemann. Ihr Herz drohte zu zerplatzen, das Blut schoss ihr in den Kopf. Sie schrie, wie sie noch nie geschrien hatte. Lustnauer Kinder erzählten später, an diesem Tag einen lauten Schrei gehört zu haben. Und mit den letzten Tönen ihres vergeblichen Schreiens schoss der Schlitten über den Wegrand hinaus und stürzte ungebremst in die Tiefe der Schlucht. Schon im freien Fall sah sie ihn: Groß, fellig und dunkel, gierig feixend, den Bitzlemann, neben einem Baum in der Schlucht stehen. Der Schlitten schlug hart auf. Dann war es still im Wald, totenstill. Ein Suchtrupp aus Pfrondorf fand am Tag darauf den Schlitten und die durchtrennten Schnüre, mit denen die Leiche befestigt war. Die Leiche und die Witwe wurden nie wieder gesehen. Der Bitzlemann war wieder da gewesen.

Noch im gleichen Jahr bauten die Pfrondorfer den Friedhof und begannen mit der Errichtung einer Kirche. Und der Wald mit der Schlucht wird seither „Bitzle“ genannt, obwohl seit jenem Wintertag niemand mehr den Bitzlemann je gesehen hatte.

(2013 - Idee: Helga)

Essays

Подняться наверх