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Dienstag, 9. Juni

»Hau bloß ab, du segglbleeds Rindvieh, du segglbleeds! Deine saudomme Sprüch stecksch d’r am beschte ins Fiedle!«, schrie der Schmied Schorsch dem Mann hinterher, der soeben eine Zwanzig-Cent-Münze in seine Mütze hatte fallen lassen. In makelloses Hochdeutsch übersetzt lautete der zweite Teil der Aufforderung in etwa: »Deine dämlichen Sprüche lässt du am besten in deinem Allerwertesten verschwinden!«

In seiner umgedrehten Kappe hatte der Schmied Schorsch bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt drei Euro fünfzig liegen gehabt. Jetzt waren es nach Adam Riese drei Euro siebzig. Der Schmied Schorsch schnaubte vor Wut. Nicht wegen der mickrigen Einnahmen, die er in drei Stunden auf dem Münsterplatz mit Mundharmonikablasen erspielt hatte. Und auch nicht wegen der lächerlichen Zwanzig-Cent-Münze. Nein! Es war die Bemerkung, die der Mann zeitgleich mit dem Zwanzig-Cent-Stück hatte fallen lassen:

»Wie wär’s mal mit geregelter Arbeit, Penner?«

Dieser geschniegelte, im dunklen Anzug daherkommende Lackaffe! Wahrscheinlich ein Banker oder ein anderer staatlich subventionierter Wegelagerer, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, anderen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die gehörten doch alle über den Löffel balbiert, diese Mistsäcke. Über jemanden zu lästern, der sein Geld auf ehrliche Weise bei Wind und Wetter auf der Straße verdienen musste. Als Künstler. Als bester Mundharmonikaspieler im Umkreis von hundert Kilometern. Und dem das Geld trotzdem nicht reichte. Hinten und vorne nicht. Eigentlich wäre schon längst mal wieder ein Schlafsack fällig gewesen. Ein gesteppter und gut gefütterter. Aber woher den nehmen, wenn die Einnahmen aus den Open-Air-Solo-Konzerten immer weniger wurden, weil die allgemeine Bevölkerung Open-Air-Kulturschaffende immer weniger wertschätzte?

Eine Schulklasse formierte sich hämisch lachend um den Schorsch. Viert- oder Fünftklässler. Sie hatten die Zwanzig-Cent-Episode mitbekommen.

»Was gibt’s ’n so bleed zom Lache, ihr Deppen?«, fuhr Schorsch die Kinder an, die daraufhin schleunigst Reißaus nahmen. Er brummelte noch ein paar Verwünschungen in seinen verfilzten Bart und beschloss, in den Sack zu hauen und seinen Freund Berti Vogtländer aufzusuchen. Auf ernsthafte Mundharmonikamusikliebhaber brauchte er an diesem Vormittag eh nicht mehr zu hoffen. Da war es besser, erst einmal auszuspannen und sich in den Bretterverschlag unter der Promenadenbrücke zurückzuziehen, den er sich kürzlich gezimmert hatte. Selbstverständlich nicht ohne vorher die drei Euro siebzig in ein dringendes menschliches Bedürfnis investiert zu haben. Nein, nicht in Klopapier, in eine Flasche Rotwein natürlich. Die Promenadenbrücke – auf ihr verlief die Friedrich-Ebert-Straße – führte zwischen Xinedome und Busbahnhof über das Flüsschen Blau. Ein paar zugewucherte, vom Zahn der Zeit zernagte Stufen am Rand des Busbahnhofs führten hinunter zum Fluss, direkt unter das Bauwerk. Auf einem schmalen Betonstreifen, unmittelbar neben der Blau, hatte Schorsch seinen Unterschlupf errichtet. »Villa Blau« nannte er ihn. Der ideale Platz für einen Asphaltexistenzler, wie er einer war. Hier konnte er meditieren und in Ruhe lesen. Er war ein Vielleser, was man ihm, wenn man ihn so sah, nie zugetraut hätte. Er las alles, was ihm in die Finger kam – auch die Zeitung. Die besorgte er sich regelmäßig bei Berti Vogtländer, der in der Nähe des Busbahnhofs nicht nur einen Kiosk betrieb, sondern auch eine sehr soziale Ader besaß. Was ihn bewog, dem Schorsch einmal in der Woche den Südwestboten kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Eine halbe Stunde später radelte er mit seinem mit diversen Plastiktüten voll bepackten Stahlesel – Marke »Adler«, ein unverwüstliches Vorkriegsmodell – in Richtung Villa Blau. Dort, wo die Stufen begannen, die zum Flüsschen hinunterführten, stellte er ihn neben den Resten eines Mäuerchens ab. Zehn Minuten später saß er in seinem Verschlag auf einem ausgebauten Autositz. Vor sich auf einer zu einem Tisch umfunktionierten Europalette die Flasche Rotwein, ein Baguette und eine Dose Thunfisch nebst Geschirr und Besteck sowie eine blütenweiße Papierserviette – Schorsch legte Wert auf gepflegte Esskultur. Er rieb sich fröhlich die Hände und freute sich auf sein Mittagessen. Noch mehr freute er sich auf den Südwestboten. Nach dem Essen würde er ihn im Licht einer batteriegespeisten Werkstattlampe von vorne bis hinten durchlesen.

Die letzte Lektüre seines Lebens.

Tote Schwaben leben länger

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