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Dienstag, 16. Juni

»Georg Schmied, Alter: fünfundfünfzig, geboren in Ehingen, seit 1992 ohne Wohnsitz, in der Szene bekannt unter dem Namen Maultrommel-Schorsch«, ratterte Heini gerade die Personaldaten des toten Obdachlosen herunter. Er war zusammen mit Zimmernagel mit den Recherchen betraut gewesen. Bereits gestern hatten sie damit begonnen, nicht nur über den Maultrommel-Schorsch, sondern auch über dessen Bekanntenkreis Informationen einzuholen.

Querlinger hatte die heutige Lagebesprechung, während der er sein Team für die weiteren Ermittlungen briefen wollte, auf sechzehn Uhr nachmittags verschoben. Heinerle, Bödele, Zimmernagel und Feigl waren bereits anwesend, Querlinger selbst war noch nicht da. Auch Janine von Eulenburg hatte angekündigt, später zu kommen. Nepomuk Hofzitzel von der KTU ebenso. Was die bereits Versammelten nicht daran hinderte, schon mal in eine Vorbesprechung einzusteigen.

»Wieso Maultrommel-Schorsch? Der Mann spielte doch Mundharmonika«, wollte Feigl wissen.

»Er hat seine musikalische Laufbahn als Maultrommelspieler begonnen und sich dann weitergebildet. Allerdings ist ihm der ursprüngliche Name geblieben«, sagte Heini.

»Wo weitergebildet?«, fragte Bödele.

»An einer Obdachlosen-Weiterbildungseinrichtung, so ’ne Art Penneruni. Da gibt’s ’ne Stiftung in Ulm, die nennt sich ›Berber-Academy of applied street art‹, ›Berber-Akademie für angewandte Straßenkunst‹. Die Räume befinden sich in einer ausgedienten Lagerhalle im Industriepark West. Da unterrichten Dozenten von verschiedenen Kunst-, Design- und Musikhochschulen begabte Penner und solche, die es werden wollen. Und das unentgeltlich! Den Dozenten soll das Ganze angeblich richtig Spaß machen. Ziel ist, den Wohnungslosen einen dritten Bildungsweg anzubieten. Das Projekt wird vom baden-württembergischen Ministerium für Bildung sowie vom Ministerium für Arbeit und Soziales mitgetragen. Ist ein Pilotprojekt und in dieser Form einzigartig in Deutschland.«

»Hoi! Wahnsinn! Und in welchen Disziplinen?«, wollte Bödele wissen.

»Musik, Graffiti, Kommunikationsdesign«, schaltete sich Zimmernagel ein.

»Was? Kommunikationsdesign?« Feigls Neffe studierte Kommunikationsdesign an einer Hochschule am Bodensee.

»Klar, die entwerfen zum Beispiel neue Logos für die sogenannten Zinken«, erklärte Heinerle. »Das sind grafische Geheimzeichen, die von Obdachlosen mit Kreide an Häusern und Eingängen angebracht werden und mit denen sie untereinander kommunizieren.«

»Wollt ihr uns verladen?«, fragte Bödele.

»Nie!«, beteuerte Heinerle. »Es gibt ’ne Unmenge solcher Zeichen, viele davon sind jahrhundertealt. Ich nenn euch Beispiele. Ein an die Mauer neben der Tür gemaltes Kreuz zum Beispiel bedeutet …«

»Dass da jemand gestorben ist«, warf Bödele ein.

»Nein«, widersprach Heini, »es bedeutet: ›Den Frommen markieren lohnt sich.‹ Ein Kreis mit einem Kreuz drin heißt ›Hier gibt es Fressi‹, drei waagrechte Striche untereinander tangiert von einem senkrechten heißt ›Hier wohnt Polizei‹, zwei runde Kreise nebeneinander ›Frau liebt Männer‹ …«

»Aaaah! Gut zu wissen«, feixte Bödele und hakte nach: »Und wofür brauchen die Obdachlosen neue Zinken … also … ähm … Zeichen?«

»Der Bedarf ist enorm. Denk doch mal an die neuen Kommunikationsmittel und technischen Möglichkeiten. ›Person besitzt Handy‹, ›Mann verfügt über Computer‹, ›Achtung, Mann setzt Drohnen zur Verfolgung ein‹. Oder denk an die neuen Gewohnheiten, die um sich greifen; ›Mann macht auf Frau‹, ›Frau macht auf Mann‹, ›Weder Mann noch Frau‹ und so weiter.«

»Und wieso heißt diese Weiterbildungseinrichtung ›Berber-Akademie‹? War der Gründer ein Berber aus Marokko, da kommen die doch her, die Berber, oder hieß der so mit Nachnamen?«

»Weder noch«, schaltete Zimmernagel sich in die Diskussion ein. »Wir haben da mal gegoogelt. Berber ist laut Wikipedia die gelegentlich verwendete Selbstbezeichnung einer sozial organisierten Teilgruppe Wohnungsloser. Es gibt sogar eine Website von denen: ›Berber-Info‹ nennt sich die.«

»So ’ne Art Obdachlosenorden?«

»Könnte man fast sagen.« Heinerle sah auf seinen Zettel. »Auf der Homepage steht Folgendes: ›Die meisten Berber lehnen Sozialhilfe vonseiten des Staates ab und leben von den Wohltaten anderer Menschen. Sie verstehen sich nicht als Bettler, sondern als Schnorrer, jedoch nicht im negativen Sinne.‹ Der Maultrommel-Schorsch gehörte zu diesen Berbern.«

»Donnerwetter. Die wollen nicht auf Kosten des Staates leben?«

»Genau!«

»Dann sind die nicht nur ein Orden, sondern würden auch einen verdienen!«

»Eigentlich schon.«

»Zurück zu dieser Stiftung – wie hieß die noch mal?«, fragte Feigl nach.

»›Berber-Academy of applied street art‹, ›Berber-Akademie für angewandte Straßenkunst‹«, antwortete Heinerle.

»Und wer ist der Stifter dieser Stiftung?«

»Dreimal darfst du raten.«

»Herrschaftszeiten, Heini, ich will nicht raten, da bin ich wie unser Chef. Also spuck’s aus.«

»Unser Ulmer Modezar!«

»Was? Der Karl Lagerwald?« Feigl konnte es nicht fassen. »Und wie kommt der dazu, so ’ne Stiftung zu gründen? Davon hab ich ja noch nie was gehört.«

»Ich hab mal die Presseberichte über ihn nachgeschlagen. Der Mann polarisiert. Manche vermuten, dass er mit der Gründung der Stiftung sein soziales Image aufpolieren will. Es gibt nämlich Stimmen, die sagen, seine soziale Kompetenz würde so viel wiegen wie ’ne Portion Fliegenschiss. Andere sagen, die Stiftung beweise, dass er ein Herz für die sogenannten Benachteiligten der Gesellschaft habe. Aufgrund seiner Beziehungen konnte er das Bildungsministerium mit ins Boot holen.«

»Richtig!«, bestätigte Zimmernagel. »Ich hab einen Kommentar gelesen, in dem stand, dass er mit dieser Stiftung das soziale Fliegenschissimage loswerden wollte. ›Karl Lagerwald hat ein Herz für Wohnungslose‹, ›Karl Lagerwald schafft spektakuläre Bildungschancen für die sozial Benachteiligten der Gesellschaft‹, ›Karl Lagerwald, der Engel der Entrechteten‹, so in die Richtung. Hätte aber nicht so richtig funktioniert. Die Resonanz in den Medien sei nicht sehr berauschend gewesen. Und wenn ich mir das Ganze so überlege, dann –«

Die Tür wurde aufgerissen. Querlinger erschien mit einem Stapel Papiere unterm Arm, im Schlepptau Janine von Eulenburg.

»Tag, Leute. ’tschuldigung, dass ich mich verspätet habe, ich sehe, ihr seid schon mittendrin.«

Der Kommissar setzte sich an die Stirnseite des Besprechungstisches, knallte den Stapel Papiere auf denselben, griff in seine linke Jackentasche und ließ ein paar Erdnüsse ihren Bestimmungsort wechseln.

»Also, Guntram, Bernd, wie sieht’s aus?«, fragte er kauend. »Ihr wolltet doch die Vita unserer Obdachlosenleiche recherchieren. Und deren Bekanntenkreis.«

In kurzen Sätzen wiederholte Bödele das, was er den anderen bereits zum Maultrommel-Schorsch mitgeteilt hatte, und fasste auch die Bemerkungen zur Lagerwald’schen Stiftung zusammen.

»Interessant. Die Karl-Lagerwald-Initiative zugunsten Wohnungsloser«, sagte Querlinger. »Ich meine, dazu schon mal was im Südwestboten gelesen zu haben. Ist aber schon länger her.«

»Also ich finde, wir sollten diesem exzentrischen, egogeilen Knilch mal auf die Finger schauen. Dass er sich für Obdachlose engagiert, ist doch nur Tarnung. In Wirklichkeit wiegt seine soziale Kompetenz so viel wie ’ne Portion Fliegenschiss. Und das Image will er loswerden«, trompetete Bödele.

»Interessant, dass er sich ausgerechnet die Tippelbrüder für seine Anti-Fliegenschiss-Kampagne ausgesucht hat«, warf Heinerle ein.

»Passt zu ihm. Hast du schon mal gesehen, wie der am Ende seiner Modenschauen mit seinen Models über den Laufsteg tippelt?«

Bödele nickte. »Stimmt! Der sieht ja selber aus wie ein Tippelbruder, so ’ne Art Edelpenner: grauer Zopf, abgeschnittene Handschuhe und …«

»Jetzt aber mal langsam, Leute. Tickt ihr noch richtig?«, echauffierte sich Eulenburg. »Nur weil ihr diesen ›egogeilen Knilch‹ nicht mögt, muss er ja nicht gleich was mit dem Mord zu tun haben. Ich mag ihn auch nicht sonderlich, mir ist er zu arrogant. Trotzdem muss ich für ihn ’ne Lanze brechen. Dass er ein Künstlergenie ist, ist unbestritten. Und das mit dem sozialen Fliegenschissimage – na ja, das kann man so oder so sehen. Er hat sich jedenfalls sozial engagiert. Abgesehen davon sind mir abgeschnittene Handschuhe und Männerzöpfchen bedeutend sympathischer als Springerstiefel und rasierte Glatzen.«

»Is ja gut, Mutter Teresa. Reg dich ab. Wir haben bloß ein Späßle g’macht. Das mit den Springerstiefeln und rasierten Glatzen sehen wir genauso«, grinste Bödele.

»So is es«, stimmte Heinerle ihm zu. »Trotzdem wird’s ja wohl noch erlaubt sein, mal drüber nachzudenken, dass unser bedauernswerter Maultrommel-Schorsch eine etwas extravagante Kopfbedeckung besessen hat. Billig war die nicht.«

»Ach, und du meinst, daraus auf eine Verbindung zu Karl Lagerwald schließen zu können? Etwas weit hergeholt, meine ich.«

Querlinger hatte dem Schlagabtausch schweigend zugehört und nickte Eulenburg aufmunternd zu. Die Standpauke an Bödele und Heinerle fand absolut seine Zustimmung. Aber was Heinerle eben gesagt hatte, war vielleicht auch gar nicht so dumm.

»Also ich würd sagen, wir behalten deine Theorie mal im Auge, Heini. Wie sieht’s mit dem sozialen Umfeld von dem Schorsch aus? Seid ihr da auf was Relevantes gestoßen?«

»Wir haben mal beim Betreuer des Obdachlosenheims beim Michelsberg nachgefragt, das von der Caritas betrieben wird«, begann Zimmernagel. »Der hatte zu ’ner ganzen Menge von Personen Kontakt. Zu den meisten allerdings nur oberflächlich und sporadisch. Regelmäßig – fast täglich – traf er sich in aller Regel nur mit drei Personen. Einem Josef Möhnle, genannt Weißlacker-Sepp, auch als Stinker-Sepp bekannt, mit einem Karl Dobler, Zinken-Karle genannt, und mit einer gewissen Annemarie Bertele, Spitzname Weißbier-Anni. Mit einem Gernot Zachbichler, genannt Professor, traf er sich etwa einmal im Monat.«

Gelächter in der Runde.

»Gesprochen habt ihr noch mit keiner der Personen?«

»Nein, dazu war die Zeit zu kurz. Die muss man erst mal alle auftreiben.«

»Der Betreuer dieses Obdachlosenheims – hat der sagen können, mit wem der Ermordete zuletzt Kontakt hatte? Oder wahrscheinlich Kontakt gehabt hat?«

»Nein! Er selbst habe ihn seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, hat er uns verklickert.«

»Mehr als zwei Wochen? So lange?«

»Na ja, es ist ja nicht so, dass diese Obdachlosen regelmäßig in der Einrichtung auftauchen, im Sommer schon gar nicht.«

»Verstehe! Andere Kontakte außerhalb der Szene? Guntram, Armin, wolltet ihr euch nicht drum kümmern?«

»Haben wir, Chef«, bestätigte Bödele. »Wir haben mit dem Besitzer von dem Kiosk am Busbahnhof gesprochen, diesem Bertram Vogtländer. Von dem stammt doch der Bleistift, den wir neben der Leiche gefunden haben. Der Schorsch und er kannten sich gut. Der Vogtländer hat dem Schorsch regelmäßig eine aktuelle Ausgabe des Südwestboten spendiert. Er hat nämlich wahnsinnig gern gelesen. Besonders das Feuilleton.«

»Genau«, pflichtete Feigl ihm bei. »An dem Tag, bevor der Schorsch ermordet wurde, war er bei diesem Vogtländer gewesen. Er hatte ihn um ein Telefonbuch gebeten, weil er eine Nummer raussuchen wollte, und um einen Bleistift und einen kleinen Block, die der Vogtländer als Give-away-Artikel an gute Kunden verschenkt. Er müsse unbedingt jemand anrufen, es gehe um eine enorm wichtige Angelegenheit, hat er ihm gesagt.«

»Und wen wollte er anrufen?«

»Konnte der Vogtländer nicht sagen. Er hat ihn zwar gefragt, aber der Schorsch hat nichts rausgelassen.«

»Hm«, meinte Eulenburg. »Den Bleistift haben wir gefunden, aber ich frage mich, was mit dem Notizblock ist, auf dem er die Nummer notiert hatte.«

»Könnte der nicht in dem Rucksack sein? Den wollten sich die Kollegen von der KTU doch noch vornehmen«, erkundigte sich Zimmernagel.

»Haben sie auch gemacht«, bestätigte Querlinger. »Aber bisher wurde nichts gefunden, was uns weiterbringen könnte. Auch kein Notizblock.«

»Die sichergestellten Fingerspuren, sind die eigentlich vom System schon geprüft worden?«, wollte Bödele wissen.

Eulenburg nickte. »Waren ’ne ganze Menge. Sind alle von der KTU durch das AFIS gejagt worden, war aber nichts Relevantes dabei.«

Die Tür ging, Nepomuk Hofzitzel trat ein, mit ihm Tamara Tausendschön, eine seiner Mitarbeiterinnen, bei deren Anblick Bödele regelmäßig Schweißausbrüche bekam. Nepo setzte sich mit seiner Begleitung ebenfalls an den Tisch und bedeutete Querlinger mit der Hand, einfach fortzufahren.

»Nächster Schritt, Herrschaften, wir konzentrieren uns schwerpunktmäßig auf die vier Personen, die laut Betreuer dieses Obdachlosenheimes mit dem Toten in engerem Kontakt standen.«

»Könnte schwierig werden«, gab Bödele den Skeptiker. »Die vier Tippelbrüder …«

»Drei Tippelbrüder und eine Tippelschwester, Bödele, gell«, korrigierte Heinerle, beflügelt vom Anblick der Tausendschön. »Du hast anscheinend immer noch Probleme, Männlein und Weiblein voneinander zu unterscheiden, kein Wunder, dass du neulich beim Polizeiball …«

»Halt endlich die Klappe, Heini!«, unterbrach Querlinger ihn. »Übrigens: Ab sofort bitte ich, Bezeichnungen wie Tippelbrüder, Penner und so weiter zu unterlassen. Es handelt sich um Obdach- beziehungsweise Wohnungslose.« Und zu Bödele: »Was wolltest du sagen, Guntram?«

»Ja, also ich meine, es könnte schwierig werden, die vier … ähm … die drei Obdachlosen und die Obdachlosin aufzuspüren. Die dürften sich überall und nirgends rumtreiben.«

»Stimmt«, pflichtete Zimmernagel ihm bei. »Der Betreuer sagte uns, die hätten ein ausgedehntes Revier und hielten sich mal da und mal dort auf.«

»Und wie groß ist das … ›Revier‹?«

»Konnte er nicht genau eingrenzen. Also ich würd mal sagen …«, Zimmernagel machte eine Geste, die den Begriff »vage« ausdrücken sollte, »… in Ulm, um Ulm und um Ulm herum …«

»Aha, und ich dachte, in Hamburg, um Hamburg und um Hamburg herum«, spöttelte Janine von Eulenburg.

»Zur Sache, Leute, zur Sache«, mahnte Querlinger mehr Ernsthaftigkeit an. »Wir müssen da weiterkommen. Auch wenn’s etwas aufwendig ist, wir müssen zusehen, dass wir an die Kandidaten herankommen.«

»Wenn wir dazu was sagen dürften?«, meldete sich Nepomuk Hofzitzel zu Wort.

»Immer zu, Nepo, immer zu!«

»Die Kollegin Tamara Tausendschön hat da was im Rucksack gefunden, was wir bisher nicht so recht einordnen konnten und für nicht wichtig gehalten haben. Vor dem Hintergrund dessen, was du gerade gesagt hast, könnte das allerdings von Bedeutung sein.«

»Und das wäre?«

»Kollegin, wollen Sie die Präsentation machen?«, wandte sich Nepo an Tausendschön, die aus einem Stapel DIN-A4-großer Fotos zwei herausgezogen hatte.

»Gerne, Chef.«

Tausendschön, in der Hand einen Stapel Bilder, catwalkte mit sicherem Schritt und atemberaubenden Beinen zu der Magnettafel an der Wand.

»Wir haben den gesamten Inhalt des Rucksacks fotografiert, Kolleginnen und Kollegen. Das meiste davon – wie Kollege Hofzitzel Ihnen ja bereits gestern sagte, Herr Hauptkommissar – ist wahrscheinlich für unseren Fall uninteressant. Unter anderem fanden wir eine Wanderkarte vom Vierwaldstättersee. Und hier die Aufnahme einer mit Bleistift geschriebenen Notiz, die wir auf der Rückseite einer Streichholzschachtel gefunden haben.«

Die schöne Tamara heftete zwei DIN-A4-große Fotos an die Tafel: Vorder- und Rückseite einer Streichholzschachtel. Auf der Rückseite die handschriftliche Notiz:

Nächstes Stammbrücken-Treffen, 15. Juni

»Und wie soll uns das weiterhelfen?«, fragte Heinerle.

»Ist doch klar!«, meinte Eulenburg, die sofort schaltete. »Stammbrücken-Treffen! Diese Wohnungslosen versammeln sich anscheinend regelmäßig irgendwo.«

»Könnte uns tatsächlich weiterhelfen«, konstatierte Querlinger.

»Verstehe«, grinste Bödele. »Der Otto Normalbürger hat seinen Stammtisch und der Otto Normalpenner seine Stammbrücke.«

»Irgendwie makaber, das Ganze«, sinnierte Eulenburg.

»Inwiefern?«, wollte Feigl wissen.

»Na ja, am 15. Juni war der Mann bereits mehr als achtundvierzig Stunden tot. Vorausgesetzt, dieses Stammbrücken-Treffen hat stattgefunden, dann ohne ihn.«

»Wenn wir jetzt noch wüssten, wo sich die Stammbrückler treffen, wären wir ein gutes Stück weiter«, meinte Zimmernagel.

»Vielleicht sollten wir noch mal beim Betreuer des Obdachlosenheims nachhaken«, schlug Feigl vor.

»Übernimm du das, Armin«, wandte sich Querlinger an Feigl, dann mit einem »Besten Dank, Kollegin« an Tausendschön und dann an Hofzitzel: »Du hast doch noch mehr auf dem Schirm, Nepo, ich seh’s dir an. Raus damit.«

»Das, was ich auf dem Schirm habe, hat nichts mit dem Mord an dem Obdachlosen zu tun, sondern mit den beiden Federseeleichen. Wir haben das Resultat der Untersuchung des orthopädischen Schuhs. Wir hatten dazu ja das LKA eingeschaltet.«

»Ach, und?«

Hofzitzel ging unaufgefordert nach vorne und heftete fünf Bilder an die Tafel. Drei Fotos, die die Stelle zeigten, an der das Logo des Herstellers nur noch rudimentär zu erkennen war. Und zwei Bilder, die am Computer mit einem speziellen Programm in 3-D-Ansicht erstellt worden waren. Sie zeigten die komplette Rekonstruktion nicht nur des Logos – der ganze Schuh sah aus wie neu. Das Logo selbst bestand aus einem Kreis, der ein »W« umschloss, und einem kreisförmig angelegten Schriftzug, der um das »W« herumführte: »Sanitäts- und Orthopädiebedarf Weh«.

»Oha!«, sagte Querlinger. »Logo und Name eines Sanitäts- und Orthopädiefachgeschäftes.«

»Genau«, sagte Hofzitzel. »Aus Ulm.«

»Gibt’s den Laden noch?«

Hofzitzel nickte. Er zog einen Zettel aus der Tasche. »Hier! Hab dir die Adresse aufgeschrieben. Ist bereits im Intranet in der Fallakte eingetragen. Eine Adresse in Ulm-Wiblingen.«

»Na, dann kommen wir wenigstens im Fall der skelettierten Wasserleichen ein Stück weiter. Danke, Nepo.« Und an Eulenburg gewandt: »Den Laden sehen wir uns morgen an.«

Bevor Querlinger die Truppe in den Feierabend entließ, besprachen sie noch, wer welche Recherchen in der Ulmer Obdachlosenszene durchführen sollte. Gleich ab morgen sollten zwei Teams im Milieu ermitteln. Feigl und Heinerle würden das eine und Bödele und Zimmernagel das andere bilden.

Als Querlinger an diesem Nachmittag aus dem Gebäude der Kriminalpolizeidirektion in der Lindenstraße trat, hörte er die Münsterglocke entfernt halb fünf schlagen. Und da der Tag schön, der Himmel blau und die Sonne richtig am Lachen war, beschloss er, sich auf ein gepflegtes Feierabendbier in der »Lochmühle« einzulassen. Kaum dass der Gedanke an ein kühles hopfiges Prickeln im Gaumen ein verklärtes Lächeln auf seine Miene gezaubert hatte, vibrierte sein Handy: Luise.

»Ja, Mäusle, was gibt’s?«

»Hallo, Bärle, du kommst schon noch rechtzeitig, oder?«

Das verklärte Lächeln wich einem verqueren Stirnrunzeln.

»Rechtzeitig kommen? Zu was?«

»Bärle, ich warn dich, versau mir nicht den Abend, gell! Die ganze Zeit hab ich mich schon drauf gefreut.«

Ich warn dich …

»Von was sprichst du? Auf was hast du dich gefreut?«

»Ha, des gibt’s doch nicht? Des kannsch doch nicht vergessen haben?«

»Ja, was sollt ich denn nicht vergessen haben?«

»Dass wir heut Abend eingeladen sind. Die Weißeneggers feiern ihren dreißigsten Hochzeitstag.«

Heiliges Kanonenrohr!

»Um Himmels willen, Mäusle, das hab ich wirklich so was von total vergessen!«

Schweres Schnaufen am anderen Ende der Verbindung. Zornesschnaufen.

»Du kommst mir jetzt sofort heim und ziehst dich um. Damit wir rechtzeitig dort sind.«

»Wann sollen wir wo rechtzeitig sein?«

»Pünktlich um achtzehn Uhr in Söflingen, Straßenbahnhaltestelle Magirusstraße. Der Arnulf hat zur Feier des Tages eine Stadtrundfahrt mit der historischen Straßenbahn gebucht, dem Bierbähnle.«

»Was? Eine Fahrt mit dem Bierbähnle?«

»Ja! Und Essen und Getränke dazu. Er hat Musiker von der Swabian Brass Band engagiert. Es soll ein unvergesslicher Abend werden, hat der Arnulf gesagt, und den lass ich mir nicht versauen, bloß weil du mal wieder vergessen hast, dass du eine Frau hast, die solche Events liebt und gelegentlich mal aus dem grauen Alltag rausmöchte.«

Knacken im Hörer. Aufgelegt.

»Das überleb ich nicht«, seufzte Querlinger. Eine zweistündige historische Straßenbahnfahrt. Als alter Ulmer wusste er natürlich, dass eine Fahrt mit dem nostalgischen Bierbähnle ein Event war, das für Anlässe aller Art genutzt wurde. Vorausgesetzt, der Nutzer brachte zwischen zweihundert und vierhundert Euro auf. Dass das Bähnle von gestressten Ehefrauen missbraucht wurde, um dem »grauen Alltag« zu entfliehen, war ihm allerdings neu. Die Fahrt wurde in einem Triebwagen von anno dazumal unternommen und führte von Söflingen über das historische Ehinger Tor, den Hauptbahnhof, das Theater, das Ulmer Justizgebäude und vorbei am Stadion des SSV Ulm in die Friedrichsau. Je nach Gusto des zahlenden Nutzers konnte die Fahrt auch weiter bis Böfingen gehen …

»Mir bleibt nichts erspart«, seufzte Querlinger, schlug den Weg zum Parkplatz ein und trottete zu seinem Wagen.

Punkt achtzehn Uhr stand er mit Luise in Söflingen an der Straßenbahnhaltestelle Magirusstraße, wartete auf die Linie 1 und darauf, dass das Schicksal seinen Lauf nähme.

Tote Schwaben leben länger

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