Читать книгу Tote Schwaben leben länger - Max Abele - Страница 13

7

Оглавление

Samstag, 13. Juni

Es ging auf ein Uhr dreißig zu. Nächtliche Stille hatte sich wie ein dicker Teppich über die Ulmer Innenstadt gebreitet und schluckte sämtliche Geräusche. Nur unter der Promenadenbrücke hatte der Teppich ein Loch, von dort drangen Lärm und der schwache Schein einer batteriegespeisten Werkstattlampe nach oben. Zwei in der Ulmer Asphaltexistenzlerszene bekannte Persönlichkeiten führten gerade einen lautstarken Disput über ein Thema, das unter männlichen Asphaltexistenzlern seit dem Turmbau zu Babel – dort wurde bereits Asphalt verwendet – immer wieder zu heftigen Kontroversen Anlass gab: Frauen!

»Halt dei bleede Gosch, Zigeiner, dreckerter, gell! Sonscht kriegsch oine aufs Maul, dass d’ nimmer woisch, wie d’ hoisch. Des isch nicht deine Anni, des isch meine Anni! Im Juli geh ich mit meiner Anni aufs Volksfescht, dass des klar isch! Aber vorher fahr ich mit ihr in Urlaub. An den Vierwaldstättersee.«

»Trau dich bloß, Schofseggel, miserabliger«, rief der »Zigeiner« und schlug dem Schofseggel die Faust zuerst ins Gesicht und dann in den Magen.

Der Schofseggel krümmte sich, hielt sich mit beiden Händen den Bauch und stöhnte. Aber nur kurz, das Stöhnen war mehr als Finte gedacht, wie der listige Blick von unten herauf verriet. Schon wähnte sich der »Zigeiner« als Sieger, als der Schofseggel urplötzlich seinen Oberkörper hoch und nach vorne schnellen ließ, wobei er seinen Schädel als Rammbock gegen das Kinn des »Zigeiners« einsetzte.

Der kippte nach hinten weg und blieb bewusstlos liegen.

»Reschpekt, des hot gsesse«, murmelte der Schofseggel, er war sichtlich stolz auf sich.

»Du bleibsch künftig weg von meiner Anni«, knurrte er, ließ sich an der Seite des Bewusstlosen nieder und zog ihm einen Uraltgeldbeutel aus der Tasche. »Der isch ja von anno Tobak«, grummelte er. Er öffnete ihn, sah kurz hinein und nickte befriedigt. »Hauptsach, des, was drin isch, passt. Super Urlaubsgeld«, meinte er und ließ ihn in seine Tasche gleiten.

Dann verließ er den Ort des Geschehens unter der Promenadenbrücke, das Loch im Teppich der Stille schloss sich, wohltuende Ruhe breitete sich unter der Brücke aus.

Hätte der obdachlose, ursprünglich aus Dortmund stammende Karl Dobler, seiner mächtigen Nase wegen auch »Zinken-Karle« genannt, in dieser Nacht nicht ein dringendes menschliches Bedürfnis verspürt – nein, nicht nach einer Flasche Rotwein –, wahrscheinlich wäre die Szene unter der Ulmer Promenadenbrücke völlig dem Dunkel der Geschichte anheimgefallen. So aber wurde Zinken-Karle, gleich nachdem er sich hinter einem Mäuerchen oberhalb der Steinstufen, die unter die Brücke zur Blau führten, erleichtert hatte, unfreiwillig Zeuge der nächtlichen Auseinandersetzung zwischen dem Zigeiner und dem Schofseggel. Wenn auch nur akustisch. Es gelang ihm gerade noch, sich rechtzeitig hinter das Mäuerchen zu ducken, bevor sein Obdachlosenkollege Sepp Möhnle, der Schofseggel, auch als Stinker-Sepp bekannt – er hatte eine Schwäche für Weißlacker-Käse mit Zwiebeln –, das Treppchen hinauf- und in Richtung Busbahnhof davonhastete.

Was Weiber doch aus Männern machen können, dachte der Zinken-Karle erschüttert und entschloss sich, beim Schmied Georg, genannt Maultrommel-Schorsch, nach dem Rechten zu sehen. Er kannte die Villa Blau, so manche Flasche Rotwein hatte er in den vergangenen Wochen hier unten mit dem Schorsch geköpft.

Der Zinken-Karle stieg die Stufen zum Fluss hinunter, wandte sich nach links, sprang über einen kaputten Betonabsatz – und blieb erschrocken stehen. Nur wenige Meter von ihm entfernt unter der Brücke bot sich ihm ein schreckliches Bild. Hingestreckt vor seinem Verschlag und neben sich eine schummrig leuchtende Werkstattleuchte, lag der Schmied Schorsch. Auf dem Rücken, den Kopf bedeckt mit seiner geliebten Arabermütze. Völlig reglos. Alle viere von sich gestreckt. Wie tot.

»So ein Scheiß!«, murmelte der Zinken-Karle. Er lief zum Schorsch und beugte sich über ihn, ihn anzufassen traute er sich nicht.

»Schorsch!«

Keine Reaktion.

»Schorsch, he!«

Null! Nada! Nix! Der Schorsch rührte sich kein bisschen. Der Schorsch war tot. Mausetot!

Der Zinken-Karle spürte Panik in sich aufsteigen, gehetzt sah er sich um. Was sollte er nur machen? Die Rettung rufen? Unsinn, das waren ja nur Sanitäter, und Sanitäter waren gänzlich ungeeignet, Tote aufzuerwecken. Die Bullen informieren? Den Stinker-Sepp verpfeifen? Von wegen! Was, wenn sie ihm nicht glaubten, mehr noch, wenn sie ihn des Mordes verdächtigten? Dann hätten ihn nicht nur die Bullen, sondern auch der Staatsanwalt am Schlafittchen. Und er würde wieder in den Knast wandern. Und da er schon mal gesessen hatte – ein halbes Jahr wegen Randalierens und Körperverletzung –, hatte er absolut keinen Bock, noch mal den Gitterblicker zu spielen.

Aber was, wenn der Stinker wieder mordete? Und wieder und wieder? Würde er, der Zinken-Karle, sich dann nicht mitschuldig machen? Quatsch! Weshalb sollte der Stinker weiter morden? Er war schließlich kein Jack the Ripper, dazu fehlte ihm jegliches Format. Das mit dem Schmied Schorsch war eine einmalige Sache gewesen. Das war doch gar kein Mord, sondern Totschlag im Affekt, ausgelöst durch eine Provokation, so musste man das sehen. Nein, den Stinker anzuzeigen würde keinen Sinn ergeben.

Der Zinken-Karle erhob sich, warf einen letzten Blick auf den Schorsch, schlug ein Kreuzzeichen – man wusste ja, was sich in der Gegenwart eines Toten gehörte – und machte sich auf den Rückweg. Es war höchste Zeit, es ging auf gefühlte zwei Uhr nachts zu, und er musste zurück in sein Domizil im Parkhaus Salzstadel.

Hätte er nur noch ein paar Augenblicke gewartet, nur ein paar winzige Augenblicke – dann hätte er das Blinzeln der Augenlider wahrgenommen, das verriet, dass der Schmied Schorsch vom Tod so weit entfernt war wie die Erde vom Mond. So aber bekam der Zinken-Karle weder das Blinzeln mit noch, wie der Schorsch sich mühsam erhob und mit einem zornig gemurmelten »Leck mi am Fiedle, des zahl i dir irgendwann hoim, Stinker« in seinen Verschlag kroch, um sich auf seiner alten Gummimatratze niederzulassen und in einen traumlosen Schlaf zu sinken. Nicht ohne vorher einen Schlummerschluck aus der Rotweinflasche genommen und die batteriegespeiste Werkzeuglampe ausgeknipst zu haben.

Tiiiiief einatmen und laaaangsam wieder ausatmen, befahl sich der Mann. Und noch mal tiiiiief einatmen und laaaangsam wieder ausatmen. Beim Atmen wölbte und senkte sich sein Bauch. Er atmete mit dem Zwerchfell, sein Arzt hatte ihm das empfohlen. Zwerchfellatmung, auch Bauchatmung genannt, sei die effektivste Art der Atmung und vertreibe die Anspannung, hatte der Arzt gesagt.

Und genau darum ging es dem Zwerchfellatmer in dieser Nacht: die Anspannung zu vertreiben, die sich seiner bemächtigt hatte. Einsam und allein atmete er dort, wo bis vor zwanzig Minuten noch der Zinken-Karle geatmet hatte. Bei dem Treppchen, das unter die Brücke zur Blau hinunterführte. Hätte er sich nur ein wenig früher auf den Weg gemacht – er wäre dem Zinken-Karle noch begegnet, und alles wäre anders gekommen.

»Packen wir’s an, es gibt viel zu tun«, flüsterte der Zwerchfellatmer. Noch im Auto hatte er sich in einen Neoprenanzug gezwängt und eine Tauchermaske aufgesetzt. Nur so konnte er sicher sein, keine verräterischen Spuren am Ort seines Wirkens zu hinterlassen. Vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzend, begann er, die von Moos überwucherten Stufen hinunterzuschreiten. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Schließlich wusste er nicht genau, was ihn ein paar Meter weiter unter der Brücke erwartete. Nur in etwa. Nämlich, dass der Penner, der sich ihm gestern am Telefon als Schorsch vorgestellt hatte, hier hauste. Der Typ war so blöd gewesen, es ihm selbst zu verraten. Er hatte überhaupt einiges über sich verraten. Was vielleicht den paar Flaschen Pennerglück geschuldet war, die er intus gehabt haben musste, er hatte ganz schön gelallt. Zum Beispiel, dass er ein begnadeter Mundharmonikaspieler sei. Und dass er sich furchtbar über »so einen Armleuchter« geärgert habe, der ihm eine Zwanzig-Cent-Münze in die Kappe geworfen und ihn beleidigt habe.

Der Armleuchter mit der Zwanzig-Cent-Münze – welche Zufälle es doch gibt, hatte Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet gedacht, nachdem das Telefongespräch beendet war, und ungläubig den Kopf geschüttelt. Die Unterhaltung hätte durchaus etwas Amüsantes gehabt, wären da nicht die Panikschauer gewesen, die ihm während des Gesprächs eiskalt den Rücken hinuntergelaufen waren. Was nicht verwunderte. Wenn einem jemand eröffnete, bestimmte Informationen zu besitzen, von denen man sicher geglaubt hatte, dass niemand außer man selbst sie besitzt, war das durchaus ein Grund, in Panik zu geraten.

So war dem Zwerchfellatmer nichts anderes übrig geblieben, als einem Treffen mit dem Schorsch zuzustimmen.

Wie er wohl reagieren wird, wenn ich ihm sage, dass ich der Armleuchter mit der Zwanzig-Cent-Münze bin?

Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet grinste hämisch. Eigentlich hätte er sich erst morgen mit dem Penner treffen sollen. So hatten sie es vereinbart. Aber manchmal gab es gute Gründe, sich nicht an Termine zu halten. Wie in diesem Fall. Jetzt würde er sich mit dem Penner treffen, jetzt gleich. Natürlich ohne Ansage. Das war ja das Entscheidende an der Sache. Er würde ihn überraschen. Das erhöhte die Chance, dass sein Vorhaben gelänge.

Der Zwerchfellatmer zog mit der Linken eine Taschenlampe aus seinem Gürtel – die Rechte würde er gleich für das Messer brauchen –, knipste sie an und balancierte über den betonierten Absatz, der unter das Bauwerk führte. Ekelhaft rutschig und schmierig war es hier. Er gelangte zu einer Stelle, an der der Beton schon weggebröckelt war. Kurz entschlossen sprang er darüber hinweg und erreichte einen Verschlag. Der Lichtstrahl seiner Taschenlampe erfasste den Betonabsatz zu seinen Füßen, huschte über die von nassen Schlieren bedeckte Wand zu seiner Linken, an der der Verschlag auf wundersame Weise zu kleben schien, glitt über eine Graffitischmiererei, die es in sich hatte – »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin« –, hüpfte hoch zu der Decke aus mächtigen Betonträgern, streifte kurz die schwarzen Fluten der Blau und glitt wieder zurück zum Verschlag, aus dem ein rasselndes Geräusch drang. Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet grinste erleichtert. Vielleicht würde er den Schnarcher gar nicht zu erschrecken brauchen, um ihn zu lähmen. Vielleicht würde er die Angelegenheit ganz problemlos erledigen können, gewissermaßen im Schlaf.

Ganz leise schlich er um den Verschlag herum auf die andere Seite. Verdammt eng war es an dieser Stelle, er musste achtgeben, nicht ins Wasser der Blau abzurutschen. Der Eingang des Verschlags war mit einer verrotteten, schmalen Tür verstellt, die der Penner aus dem Bauschutt gezogen haben mochte. Wie er es geschafft hatte, sie mitsamt den anderen Materialien hier herunterzubringen, war ihm ein Rätsel.

Der Zwerchfellatmer klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, packte die schmale Tür und stellte sie beiseite.

Da lag er, der Penner, nur mit Unterhose und Hemd bekleidet. Auf dem Bauch. Die Decke hatte er im Schlaf von sich geschoben, sie befand sich am Fußende. Mit angehaltenem Atem beugte sich der Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet zu dem Schlafenden hinunter und musterte ihn im Licht der Taschenlampe. Was ihm sofort ins Auge fiel, war ein markanter Leberfleck auf der rechten Wange. Der Zwerchfellatmer ließ den Lichtstrahl weiter über den Körper des Mannes wandern. Plötzlich zuckte er zusammen, seine Hand begann unwillkürlich zu zittern, ein Bild aus längst vergangenen Tagen schoss ihm in den Kopf. Das gibt’s doch nicht, dachte er.

Doch die Irritation währte nur wenige Augenblicke. Ein laut gedachtes »Reiß dich zusammen« verjagte das Bild so schnell, wie es gekommen war. Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet griff nach seinem Messer, das im Gürtel steckte. Ein verzerrtes Lächeln stahl sich auf seine Züge. Fast tat es ihm leid, dass er Schorsch, dem Penner, nicht mehr sagen konnte, dass er der Zwanzig-Cent-Armleuchter gewesen war; es wäre eine nette Pointe gewesen. Aber so wie er dalag, wäre es eine Sünde gewesen, ihn zu wecken …

Zwei Minuten später reinigte er die Schneide des Messers, indem er sie so lange in die Blau hielt, bis sie wieder blank und unschuldig glänzte. Dann nahm er sich die Klamotten des Schorsch vor. Akribisch durchsuchte er seine Hosentaschen und seine Jacke nach einem eventuellen Handy, mit dem der Penner ihn angerufen haben könnte. Aber er fand keines. Sein Blick fiel auf den Rucksack. Kurz entschlossen leerte er den Inhalt auf den Boden und durchwühlte ihn. Kein Handy. Der Penner hatte sicherlich keines besessen, wie wahrscheinlich die meisten seiner Pennerkollegen. Woher hätte er auch das Geld nehmen sollen? Er packte den Inhalt wieder ein, wollte den Rucksack dorthin zurückstellen, wo er gestanden hatte – und stutzte.

Der Strahl seiner Taschenlampe hatte ein Blatt Papier erfasst, das dort, wo der Rucksack gestanden hatte, auf dem Boden lag. Er las es und spürte, wie trotz der Zwerchfellatmung sein Herz zu rasen begann. Er las den Text ein zweites und drittes Mal, in der Hoffnung, einer Fata Morgana aufgesessen zu sein.

Nein! Keine Fata Morgana.

Der-mit-dem-Zwerchfell-atmet spürte, wie ihm schwindlig wurde. Drehte sich die Welt auf einmal verkehrt herum?

»Professor? Müller? Götzi? Verdammter Mist, das gibt’s doch nicht!«, murmelte der Zwerchfellatmer, dem blitzartig klar wurde, dass seine Mission noch längst nicht beendet war.

Zehn Minuten später – die Tauchermaske hatte er inzwischen abgenommen – stieg er in sein Fahrzeug, das er in Nähe des Busbahnhofs abgestellt hatte, und fuhr nach Hause.

Tote Schwaben leben länger

Подняться наверх