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Mittwoch, 10. Juni

Vor nichts außer Tanzen graute Querlinger so sehr wie vor einem Besuch im Sektionssaal der Abteilung für Rechtsmedizin an der Uni Ulm, dem Reich des Dr. Elias Brenner, in dem dieser zurzeit das Regiment führte. »Zurzeit« deswegen, weil Dr. Kathrin Rothschild, die eigentliche Chefin, mit der sich der Kommissar prächtig verstand, mal wieder auf Vortragsreise war.

In Begleitung von Bödele und Heinerle betrat Querlinger gegen zehn Uhr den stark nach Desinfektionsmitteln riechenden Saal.

Sie wurden bereits erwartet. Nicht nur von Ann-Sophie Matern, der Assistentin des Dr. Brenner, sondern auch von vier Studenten und sieben Studentinnen, die – so sollte Querlinger gleich erfahren – im ersten Semester Rechtsmedizin studierten. Sie würden heute ihren ersten Anschauungsunterricht von Dr. Brenner erhalten.

»Tag, die Herren«, begrüßte Ann-Sophie Matern Querlinger und seine beiden Kollegen. In der linken Hand hielt die zierliche Wasserstoffblondine einen Becher Kaffee, in der rechten ein Schinkensandwich. Hinter ihr, auf zwei Edelstahltischen, lagen die Skelette. Auf einem Tisch neben einem der Waschbecken in der Nähe der Eingangstür befanden sich ein Teller mit Sandwichs und belegten Brötchen, eine große Thermoskanne und mehrere saubere Tassen.

Ann-Sophie Matern biss in ihr Sandwich.

»Was zu essen? Kaffee?«, fragte sie.

»Danke, nein«, antworteten Querlinger und Bödele im Chor, während Heinerle zur Überraschung seiner beiden Kollegen mit einem »Ja, gerne« zustimmte.

Querlinger wusste, dass Heini die Abneigung gegen Besuche im Sektionssaal der Rechtsmedizin mit ihm teilte.

»Ja was? Wenn ihr keinen Hunger habt, ich schon!«, kommentierte Heini den Blick seines Chefs.

»Na denn, bedienen Sie sich!«, forderte Ann-Sophie Matern den Immer-noch-Polizeihauptmeister fröhlich auf. Sie wies auf den Tisch neben dem Waschbecken.

Heinerle bediente sich. Wenn auch etwas zögerlich. Einige der Studenten und Studentinnen glucksten. Von ihnen hatte niemand Lust auf einen Imbiss.

In diesem Moment ging die Tür auf, und Dr. Brenner stürmte mit wehendem Kittel herein.

»Morgen! Dann wollen wir mal!«, knurrte er, ohne die Anwesenden eines Blickes zu würdigen. Er eilte durch den Saal und postierte sich zwischen den beiden Edelstahltischen, auf denen die Skelette lagen.

Wenn Querlinger etwas auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann einen von schlechter Laune begleiteten amputierten Guten-Morgen-Gruß. Und da es Dr. Brenner war, der sich so benahm, stach ihn mal wieder ganz besonders der Hafer.

»Wieso morgen, ich dachte heute«, grinste Querlinger ihn ungeachtet des Publikums an.

»Wie?« Brenner wirkte irritiert.

»Ich dachte, Sie wollten uns heute über die Ergebnisse der Obduktion informieren.«

»Will ich ja auch, deswegen bin hier. Und Sie doch auch. Was soll die blöde Frage, Querlinger?«

»Vielleicht können Sie sich ja mal entscheiden, Brenner. Heute oder morgen? ›Morgen! Wollen wir mal‹, so sind Sie doch grade hier reingestürmt. Oder sollte das vielleicht ein herzlicher Guten-Morgen-Gruß an uns alle hier sein?«

Ann-Sophie war die Schadenfreude anzusehen. Verhaltenes Glucksen auch aufseiten der Studenten.

Der Rechtsmediziner lief dunkelrot an.

»Das ist mir zu blöd, Querlinger. Sie können mich nicht provozieren, merken Sie sich das.« Und an den Rest gewandt: »Kommen Sie bitte näher. Ich sag nichts zweimal.«

Alle traten näher.

»Wir haben hier zwei fast vollständig erhaltene Skelette, die vor wenigen Tagen aus dem Federsee geborgen wurden. Es handelt sich um die sterblichen Überreste von Mordopfern, beide männlich. Wie lässt sich Letzteres feststellen? Nun, zum einen am Cranium und zum anderen am Becken, dem Cingulum membri pelvini, wie wir Lateiner sagen.« Der Rechtsmediziner wandte sich dem rechten Skelett zu. »Sehen wir uns Hirn- und Gesichtsschädel, also Neurocranium und Viscerocranium an. An diesen drei Stellen«, er wies auf jeweils eine Stelle über den Augenhöhlen, unter den Ohren und am Hinterkopf, »ist die knöcherne Substanz stärker ausgeprägt, als es bei einem weiblichen Schädel der Fall wäre. Das Becken ist hoch, schmal und eng. Im Gegensatz zu einem weiblichen Becken, bei dem die beiden Beckenschaufeln ausladender sind und das Foramen obturatum, das Hüftbeinloch, eine dreieckige Form besitzt. Was das Alter der Opfer angeht, so dürfte dieses hier um zwanzig bis maximal fünfundzwanzig, das andere«, Brenner wies auf das Skelett auf dem anderen Tisch, »um einiges älter, ich schätze, zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt gewesen sein.«

»Sie sprechen vom Alter zum Zeitpunkt des Todes?«, fragte Bödele wichtigtuerisch nach. Irgendwie musste er sich ja bemerkbar machen. Vor allem angesichts des überwiegend weiblichen Publikums.

»Nein, er spricht vom Alter zum Zeitpunkt der Einschulung«, quatschte Heini dazwischen.

Brüllendes Gelächter. Sogar über Brenners Miene huschte die Andeutung eines Grinsens. Jetzt war es Bödele, der einen dunkelroten Kopf bekam, diesmal verzichtete er jedoch auf den üblichen Konter.

»Sie fragen sich, wie diese Altersbestimmung zustande kommt? Ich erklär’s Ihnen«, fuhr Brenner gönnerhaft fort. »Der menschliche Schädel besteht aus zweiundzwanzig bis dreißig Knochen, die über die Knochennähte miteinander verbunden sind. Und jetzt kommt’s, Herrschaften …«, Brenner legte eine Kunstpause ein, »… die Beschaffenheit dieser Schädelnähte – wir nennen sie Suturen, vom lateinischen sutura abgeleitet – gibt Auskunft über das Alter einer Person beim Todeszeitpunkt. Eine stärkere Zahnung der sogenannten Schädelnaht weist auf einen jüngeren, eine verhältnismäßig begradigte, sprich eine mehr zusammengewachsene Naht, auf einen älteren Menschen hin. Eine genauere Analyse der vorliegenden Skelette ergab das Alter, das ich Ihnen bereits genannt habe – der jüngere dürfte zwischen zwanzig bis fünfundzwanzig, der ältere vierzig bis fünfundvierzig Jahre alt gewesen sein.«

Erneut machte Brenner eine Pause. Fast so, als ob er Beifall erwartete. Der aber blieb aus, stattdessen meldete sich Querlinger zu Wort, dem das alles viel zu lang dauerte.

»Ich brauche keine ausführliche Vorlesung in Anatomie, Brenner. Gibt es sonst noch relevante Befunde, die uns weiterbringen? Oder die Hinweise zur Tat geben? Wenn ja, schildern Sie uns diese kurz und bündig. Uns läuft die Zeit davon!«

»Okay, ich mach’s kurz, dann bin ich Sie endlich los, Sie nerven, Querlinger.« Der Gerichtsmediziner begann so schnell zu sprechen wie ein Sprecher in einem Werbespot für Medikamente, der die Passage mit den Risiken und Nebenwirkungen spricht. »Also: Deformation des rechten Fußes beim jüngeren Opfer, ein sogenannter Klumpfuß, was auch den orthopädischen Schuh erklärt, der gefunden wurde. Wir haben Schuh und Fuß miteinander verglichen. Die Schuhgröße entspricht der Größe des Fußes, die Form des Schuhs stimmt mit der festgestellten anatomischen Anomalie überein. Zu den Verletzungen: bei dem jüngeren Opfer tödliche Schussverletzung im Bereich der Stirn, glattes Einschussloch direkt über der Nasenwurzel, Austrittsstelle des Projektils am Hinterkopf genau gegenüber der Eintrittsstelle. Der Täter muss die Waffe waagerecht auf Augenhöhe des Opfers gehalten haben. Unter Umständen wurde der Schuss aus sehr naher Entfernung abgegeben.

Beim Älteren finden sich Spuren von Schussverletzungen im Bereich des Brustkorbs und der Schulter, er wurde von zwei Schüssen getroffen. Die linke Scapula, das Schulterblatt, wurde rechts des Oberarmkopfes durchbohrt, außerdem wurde eine Rippe verletzt. Das Herz scheint nicht direkt getroffen worden zu sein, wahrscheinlich aber die Aorta. Beim älteren der beiden Opfer fanden sich Amalgamfüllungen. Ein Zahnstatus bei beiden Opfern wird vorbereitet. Wenngleich der wenig nützen dürfte, Zahnärzte bewahren Daten ihrer Patienten maximal dreißig Jahre auf. Meiner Erfahrung nach müssten die Skelette aber weit über dreißig Jahre da unten gelegen haben. Bemerkenswert ist: Der Täter muss die Leichen, bevor er sie versenkte, gänzlich entkleidet haben. Lediglich ein Fußkettchen mit Anhänger konnte die Spurensicherung wohl bergen. Das wär’s. – Ach ja, bevor Sie mir mit der Frage auch noch auf den Senkel gehen, Querlinger: Es existieren derzeit keine verbindlichen Methoden, welche eine exakte Bestimmung der Liegezeit von Skeletten erlauben würden. An den Überresten selbst finden sich keine Hinweise, die eine genauere zeitliche Eingrenzung erlauben würden. Vielleicht lassen die Beifunde ja gewisse Schlüsse zu. Aber das herauszufinden, ist Ihr Bier beziehungsweise das Ihres Kollegen Hofzitzel.«

Heini riss seinen Arm nach oben. Herr-Lehrer-ich-weiß-was-Pose.

»Moment, Dr. Brenner, und wie steht’s mit der Radiokarbon-, also der C14-Methode? Die ist doch als verbindlich anerkannt.«

Mildes Lächeln auf der Miene des Rechtsmediziners, dem Mitleidsbonus geschuldet.

»Wenn Sie eine Erklärung dafür haben, wie ein Fußkettchen mit Plastikanhänger und eine mit rostfreiem Stahldraht umwickelte Granitbüste ins 16. Jahrhundert oder in die Antike oder gar in die Steinzeit gelangen konnten, stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu.«

Verhaltenes Lachen in der Runde.

Für Bödele die Gelegenheit. Was für ein Zufall, dass er erst gestern seinem Neffen bei den Hausaufgaben in Chemie geholfen hatte!

»Mensch, Heini, so ’ne blöde Frage. Die C14-Methode ist völlig ungeeignet für die Altersbestimmung von Knochen, die jünger sind als dreihundert Jahre. Das weiß doch jeder, der einigermaßen in der Schule aufgepasst hat.«

Eine Stunde später war Querlinger im Büro mit dem Unterzeichnen von diversen Anträgen, Berichten und der Durchsicht anderer Unterlagen beschäftigt, als es an der Tür klopfte.

»Herein! Hallo, Nepo, du? Nimm Platz! Was gibt’s?«

»Wir haben uns das Fußkettchen und den Sternzeichenanhänger vorgenommen. Beim Fußkettchen handelt es sich um eine 925er Legierung, also Sterlingsilber. Es muss sich ursprünglich um ein Kettchen ohne Anhänger gehandelt haben. Der ist, wie du weißt, aus Kunststoff und wurde einfach mit einem Nylonfaden an dem Kettchen befestigt.«

Nepo klappte sein Notebook auf, stellte es auf den Schreibtisch und betätigte die Tastatur.

»Das hier ist, wie du siehst, der Anhänger, der an dem Kettchen befestigt ist. Das ist die Öse, an der der Nylonfaden hängt. Wir haben im Internet nach Herstellern von Modeschmuck recherchiert. Der Anhänger ist Teil einer Serie, deren Produktion Anfang 1985 startete. Der Hersteller saß in der Schweiz und ging 1986, also ein Jahr später, in Konkurs. Das hier ist schon ewig lange nicht mehr bei uns zu haben.«

»1985 begann die Produktion?«, brummte Querlinger. »Das heißt, unsere Leichen könnten schon fünfunddreißig Jahre da unten gelegen haben!«

»Aber auch nicht länger. Womit die Frage nach der maximalen Liegezeit geklärt wäre«, bestätigte Hofzitzel.

»Und auch, wie weit zurück wir nach eventuellen Vermissten forschen müssen. Gute Arbeit, Nepo. Aber weißt du, was ich mich frage?«

»Sag’s mir.«

»Wie kann es sein, dass zwei im See versenkte Leichen über dreißig Jahre unentdeckt bleiben? Die Knochen lagen gerade mal dreieinhalb Meter unter der Oberfläche. Hast du dir mal das Wasser angesehen? Glasklar, du kannst bis auf den Grund schauen.«

»Also erstens: Das war nicht immer so, ich hab mich da schlaugemacht. Über Jahrzehnte hinweg, bis 2008, war der See Blaualgenbefall ausgesetzt, das Gewässer war eine einzige eklige Algenbrühe. Bei Blaualgen ist vom Grund nichts mehr zu sehen. Dann kam es im Sommer 2008 zu einem wochenlangen Fischsterben, schuld daran war ein Bakterium. Die Leichen wurden mitten im See versenkt, dort, wo er am tiefsten ist, wahrscheinlich zwischen Mitte und Ende der achtziger Jahre. Ergo vergingen Jahrzehnte, in denen sie vor sich hin skelettieren konnten. Zweitens: Der Grund ist sumpfig. Die Knochen steckten von Schlick überzogen im Schlamm, die kannst du nicht so ohne Weiteres als solche erkennen. Und drittens: Auf dem See herrscht kein regelmäßiger Bootsverkehr. Hier haben wir ein ausgedehntes Naturschutzreservat. Seit vielen Jahren ist das Fahren auf dem See nur in bestimmten Bereichen erlaubt, ansonsten ist er für die Öffentlichkeit gesperrt. Und nur in einigen wenigen, genau gekennzeichneten Bereichen darf geangelt und gebadet werden.«

»Verstehe. Das erklärt einiges. Andere Frage: Was ist mit dem Schuh? Gibt’s da schon Ergebnisse?«

»Nein, wir konnten das Logo oder die Inschrift oder was auch immer nicht verifizieren. Der Schuh ist beim LKA. Sollen die sich damit rumschlagen, die haben da andere technische Möglichkeiten.«

Zwanzig Minuten später – Nepo war schon gegangen – saßen Querlinger Janine von Eulenburg und Armin Feigl gegenüber. Der Kommissar hatte sie soeben über die neuen Erkenntnisse bezüglich des Sternzeichenanhängers informiert.

»Maximale Liegezeit fünfunddreißig Jahre – puh, ganz schön lange!«, bemerkte Feigl.

»Wie sieht’s mit den Recherchen zu eventuellen Vermissten aus, Armin? Sind wir da schon weiter?«, wandte sich Eulenburg an Feigl.

»Die Kollegen vom K7 haben erst gestern damit angefangen, aber wenn’s überhaupt welche gibt, dürfte es sich um eine überschaubare Anzahl handeln.«

»So seh ich das auch«, meinte Querlinger. »Vielleicht könnten du und der Armin mal recherchieren, welche Schmuckgeschäfte, Händler, Großhändler und so weiter seinerzeit mit diesem Sternzeichenanhänger beliefert worden sind.«

Tote Schwaben leben länger

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