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Prolog

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Juni 1985

»Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«

Um Himmels willen, was war das denn? Entsetzt hielt der Mann den Atem an. Stocksteif stand er da und lauschte in die nächtliche Stille.

Da – schon wieder dieses grauenvolle Geräusch! Als ob jemand mit einem harten Gegenstand über die Zähne eines Kamms streichen würde. Aber wer schlich schon um diese Zeit mit einem Kamm durchs Moor? Ein Moorgeist vielleicht? Schwachsinn! Was für ein bescheuerter Gedanke.

»Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«

Schweiß perlte die Stirn des Mannes hinab, das höhnische Schnarren jagte kalte Schauer über seinen Rücken. Angestrengt starrte er den Steg entlang, der sich eintönig und schier endlos vor ihm erstreckte. Inmitten eines Schilfgürtels gelegen, führte er kerzengerade über das moorige Gewässer, verjüngte sich in der Ferne zu einem lang gezogenen, diffusen Trapez und verlor sich schließlich im nächtlichen Dunkel und im aufkommenden Nebel.

»Rerrp-rerrp!«

Nicht schon wieder! Der Blick des Mannes bohrte sich in das vom bleichen Mondlicht beschienene Schilfdickicht – von wo, zum Donnerwetter, kam bloß dieses irre Geräusch?

Zögernd ging er weiter und gelangte schließlich zu einer Stelle, an der sich Bäume, Sträucher und andere Gewächse rechts des Stegs den Platz mit den Schilfstängeln teilten. Links öffnete sich dem Blick das offene Gewässer des Federsees. Still und dunkel lag er da. Irgendwie heimtückisch, wie ein schlafendes Monster. Erneut blieb der Mann kurz stehen, diesmal, um sich zu orientieren. Wann, zum Henker, würde er endlich die Plattform am Ende des Stegs erreicht haben, die ihm als Treffpunkt benannt worden war? Wo er den »Geheimnisvollen« treffen würde, diesen bescheuerten, geldgeilen Sack, dem er noch nie zuvor persönlich begegnet war. Gerade wollte er weitergehen – als er erneut innehielt. Ziemlich weit vorne, dort, wo der Steg endete, direkt über dem Freiwasser, schien für einen kurzen Moment ein winziges gelbes Licht aufgeblitzt zu sein.

Ein Irrlicht? Eine Sinnestäuschung?

Der Mann spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Durchsichtige Nebelschleier, die wie besoffene Gespenster über die weitläufige Moorlandschaft torkelten, taten ihr Übriges, seinen Puls in die Höhe zu treiben. Selbst dem Vollmond, der schmutzig fahl am Himmel stand, schien die Angst ins Gesicht geschrieben – in seinem duckmäuserischen Licht nahmen sich die Gewächse wie die dunklen Silhouetten von Untoten aus. Wie die schwarzen Seelen derer, die ihrer schwarzen Taten wegen ins schwarze Moor verbannt worden waren. Vielleicht gab es sie ja wirklich, diese Spacken aus den alten Volkssagen. Die Untoten und Nachzehrer. Die Aufhocker und Hakenmänner. Steckte nicht in jeder Sage auch ein Körnchen Wahrheit? Sollte er ausgerechnet heute, an seinem zwanzigsten Geburtstag, das Opfer eines dieser nach Tod und Verwesung stinkenden Ungeheuer werden? Die, das Totenkopfgebiss bleckend, ihre Opfer hämisch grinsend auf den Grund des Sees hinunterzogen? Ihnen auf die Schulter sprangen und sie in die Fluten drückten, damit sie blubbernd in der sumpfigen Brühe ersoffen?

Nein, doch nicht er! Er, Anton Huber, von seinen Freunden Huber Toni genannt, der zukünftige Besitzer eines Millionenvermögens …

Aber halt! Vielleicht waren es ja gar nicht die Untoten, die etwas von ihm wollten. Vielleicht gab es ja noch eine andere Erklärung für das, was hier gerade abging. Eventuell wollte ihn nur jemand verladen. Ihm Angst einjagen. So eine richtige Verarsche mit ihm veranstalten. Jemand, der wusste, dass er heute Nacht hier sein würde. Aber wer? Etwa der, mit dem er sich hier treffen sollte?

Eigentlich undenkbar!

Und wenn doch? Was, wenn der Typ es sich anders überlegt hatte? Immerhin ging es um eine Menge Kohle. Konkreter: um ziemlich viel Kohle! Und Kohle verdirbt den Charakter. War derjenige, den er hier gleich treffen würde, etwa so blöd zu glauben, dass er ihm, dem Huber Toni, Angst einjagen und ihn in die Flucht schlagen könnte?

Erneut schnarrte es dunkel und geheimnisvoll aus dem Schilfdickicht. Abermals blitzte am Ende des Stegs direkt über dem See das winzige Licht auf. Geschätzte vier-, fünfmal hintereinander. Gegen seinen Willen erstarrte der Huber Toni aufs Neue.

Diese saublöde Inszenierung! Worauf hatte er sich da bloß eingelassen! Sich hier und heute zu dieser unchristlichen Zeit mit jemandem zu treffen, mit dem er sein Lebtag lang nie etwas zu tun gehabt hatte. Am liebsten hätte er kehrtgemacht und sich in seine Ulmer Stammdisco verkrümelt. Aber er hatte ein Vermächtnis zu erfüllen, er musste seiner Pflicht nachkommen, und er gehörte nicht zu den gewissenlosen Drecksäcken, die sich der Verantwortung entzogen. Außerdem, wie gesagt, ging es um Geld. Um sauviel Geld. Geld, das ihm, dem Huber Toni, nun mal zustand.

»Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«

Mist, elender! Er spürte, wie er in Wut geriet. Allmählich hatte er die Schnauze voll. Ob Untote oder andere ihm unbekannte Vollpfosten, sie konnten ihn mal. Und das kreuzweise!

»Saubleede Rendviecher, saubleede! Halbdaggl, elendige!«, brüllte er auf Schwäbisch in die moorige Nacht. Zum einen, um sich Mut zu machen, zum anderen, um ausnahmslos allen, die ihn kreuzweise konnten, die Meinung zu geigen. Gleich darauf präzisierte er auf Bayerisch: »Leckts mi doch am Oarsch, Saubagaasch, dreckerte! Kimmts her, i ziach eich an Scheitel mit der Schoassbirscht’n, dass’tser nimmer wissts, wias ihr hoaßts, damisch’s Dreckspack, damisch’s!«

Der Huber Toni war zwar ein wenig beschränkt, aber er war immerhin schwäbisch-bayerisch, also zweisprachig, aufgewachsen. Empfangen hatte ihn seine Mutter in Bad Buchau, geboren hatte sie ihn in Ulm, aufgewachsen war er in München und später wieder in Ulm. Auf diese Weise hatte er wunderschöne Zeiten sowohl in der bayerischen als auch in der schwäbischen Metropole verbracht und sich’s gut gehen lassen, ohne je mit Wiedergängern, Vampiren und anderen Untoten konfrontiert gewesen zu sein.

»Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«, tönte es schaurig aus dem Schilf. Das gelbe Aufblitzen wurde intensiver. Der Herzschlag des Huber Toni auch. Sein Fluchen und Brüllen brachte einfach nicht den erhofften Erfolg. Stattdessen schien sich das Grauen nur noch zu verstärken.

»Zusammenreißen!«, trat er sich in den Hintern. Unter Aufbietung sämtlicher Willenskräfte stapfte er weiter über die morschen Bohlen. Einige schwankten bedenklich, als er über sie marschierte, sie waren feucht und schmierig. Dann, plötzlich, registrierte er, dass sein Ziel kurz vor ihm lag – etwa zwanzig Meter weiter knickte der Steg nach links ab und endete auf einer Plattform. Wegen der Nebelschwaden, die mal dicht, mal weniger dicht über den See waberten, hatte der Huber Toni dies erst jetzt bemerkt. Plötzlich – was war das denn? – begann sich von der Plattform her etwas auf ihn zuzubewegen.

Er fing an zu zittern. Das war garantiert nicht der, mit dem er sich hier treffen wollte! Was da einen Meter achtzig über den Bohlen des Stegs heranschwebte, war kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ein Totenschädel. Fahl schimmerte er im Licht des Mondes. Hin und wieder machte es klick, dann leuchtete links neben dem Schädel ein gelbes Flämmchen auf – das Irrlicht.

Immer näher kam der Schädel. Immer öfter blitzte es gelb auf. Immer kälter wurde dem Huber Toni. »Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«, schnarrte es aus dem Schilfröhricht, während der Schädel weiter auf den Huber Toni zusteuerte. Erst als er sich ihm bis auf etwa fünf Meter genähert hatte, verharrte er – und jetzt erst erkannte der Huber Toni, dass er es wahrscheinlich doch mit einem ganz normalen Menschen zu tun hatte. Einem aus Fleisch und Blut, dessen Gesicht von einer Screammaske verhüllt war. Um den Hals hatte der ganz normale Mensch einen ganz normalen schwarzen Schal geschlungen, der unter einem ganz normalen, bis zu den Waden reichenden schwarzen Mantel verschwand, unter dem ein Paar ganz normaler schwarzer Gummistiefel hervorlugten.

Toni hatte sich nur auf die fahlweiße Totenkopfvisage konzentriert; im Dunkel der Nacht war ihm der Unterbau, über den jeder normale Mensch unterhalb des Kopfes verfügt, völlig entgangen. Jetzt erkannte er auch, dass der Mensch aus Fleisch und Blut in der linken schwarz behandschuhten Hand etwas hielt, das wie ein Feuerzeug aussah. Es machte klick, und ein Flämmchen blitzte auf.

»Hast wohl gedacht, du könnest den Reibach deines Lebens machen, hä?«, tönte es dumpf hinter der Totenkopfmaske hervor.

»W… w… wieso?«, stotterte der Huber Toni, seine Stimme krächzte vor Angst.

Höhnisches Auflachen hinter der Totenkopfmaske.

»Stell dich doch nicht blöder, als du bist. Glaubst du tatsächlich, ich werfe so einem dahergelaufenen Haderlumpen wie dir mein Geld in den Rachen?«

»A… a… aber ich b… b… bin doch –«

»Ein Dreck bist du«, unterbrach ihn der Totenkopf zischend. »Ein Wurm, ein Nichts. Ich mach dich alle, du blöder Sack!«

Der Huber Toni runzelte die Stirn. Der Mann konnte sich offenbar nicht entscheiden; für was hielt er ihn denn jetzt? Für einen Dreck, einen Wurm, ein Nichts oder einen blöden Sack?

Er wollte gerade nachfragen, als er hinter sich ein leises Lachen hörte. Entsetzt fuhr er herum – und starrte in eine weitere Totenkopffratze; der Typ hatte einen Kollegen mitgebracht. Wie kam es bloß, dass er ihn nicht bemerkt hatte? Weder gesehen noch gehört hatte er ihn. Jetzt geriet der Huber Toni so richtig in Panik. Totenkopf Nummer eins vor ihm, Totenkopf Nummer zwei hinter ihm – allmählich begann er zu begreifen, dass es eng für ihn wurde. Saueng!

»W… w… was soll das?«, stotterte er Totenkopf Nummer zwei verzweifelt an.

Ein Klacken ertönte in seinem Rücken. War das etwa …? Eine blitzschnelle Drehung um hundertachtzig Grad bestätigte seine Vermutung. Totenkopf Nummer eins hatte eine Pistole entsichert; der mit einem Schalldämpfer versehene Lauf war auf Tonis Stirn gerichtet.

Plopp!

Mit weit aufgerissenen Augen und einem Loch über der Nasenwurzel kippte Anton Huber, genannt Huber Toni, lautlos nach hinten. Das zweite und dritte Plopp bekam er nicht mehr mit. Die beiden Schüsse trafen den hinter ihm stehenden Totenkopf Nummer zwei. Allerdings nicht in den Kopf, sondern in die Brust. Noch im Fallen gelang es Totenkopf Nummer zwei, sich in einem Reflex die Maske vom Gesicht zu reißen, was ihm aber nichts mehr nützte. Er erreichte nur, dass Totenkopf Nummer eins das ungläubige Erstaunen in seinem vom blassen Mondlicht beschienenen Gesicht wahrnehmen konnte. Und dass die Flüsterworte, die Nummer zwei hervorstieß, etwas deutlicher zu hören waren, als es hinter der Maske der Fall gewesen wäre.

»B… b… bist du wahnsinnig … du … du De… Depp!«, stieß er hervor, bevor er den Kopf zur Seite neigte und verschied.

Totenkopf Nummer eins beugte sich in aller Ruhe über den Leichnam des Huber Toni, durchsuchte akribisch die Taschen seiner Klamotten und nahm alles an sich, was er finden konnte.

Auch über die Leiche seines Totenkopfkollegen beugte er sich, mit dessen Klamottentaschen er in gleicher Weise verfuhr. Dessen Screammaske nahm er an sich.

Das Schwerste stand Totenkopf Nummer eins jedoch noch bevor. Zunächst hievte er die beiden Leichen ins Boot, das unterhalb des Stegs festgemacht war. Das war nicht so einfach, weil das Boot bereits etwas Tiefgang hatte und infolgedessen Wasser hereinschwappte. Kein Wunder angesichts des fünfzig Kilo schweren Granitklotzes, der schon im Boot lag und seiner Bestimmung harrte.

Nachdem er auch das geschafft hatte, ergriff Totenkopf Nummer eins die Ruderblätter und ruderte auf den See hinaus. An der Stelle, wo er am tiefsten war, hielt er inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nur die Nebelschleier, die über die glänzend schwarze Wasserfläche waberten, und der Mond, der sich geisterhaft darin spiegelte, waren Zeugen, als Totenkopf Nummer eins seinen toten Totenkopfkollegen und die Leiche des Huber Toni sorgfältig entkleidete, ihnen die Schuhe auszog und sich an diesen zu schaffen machte. So bestand nicht die Gefahr, dass man die Kleidungsstücke identifizieren könnte, sollten sie wider Erwarten irgendwann auftauchen. Dann befestigte er die beiden Leichen mit Kabelbinder und Draht an einer Stahlöse, die aus dem Granitklotz ragte, und ließ sie mitsamt dem Klotz in den dunklen Fluten verschwinden.

»Das wär’s, würd ich mal sagen«, murmelte Totenkopf Nummer eins, nachdem das Blubbern der schwarzen Brühe aufgehört hatte. Als er Kleider und Schuhwerk in einen großen Plastiksack stecken wollte, fiel einer der Schuhe, die dem Huber Toni gehört hatten, ins Wasser und versank glucksend in den Fluten.

»Verdammter Mist!«, schimpfte Totenkopf Nummer eins, genau das hatte er vermeiden wollen. Ärgerlich beugte er sich über den Bootsrand. »Egal«, brummte er schließlich, ergriff die Ruderblätter und ruderte mit kräftigen Schlägen zum Ufer.

Im Moment, als er das Boot dort festmachte, tönte erneut der Ruf des Wachtelkönigs durch die Nacht.

»Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp! Rerrp-rerrp!«, schimpfte der Vogel empört, bevor er sich mit unbeholfenem Flügelschlag aus dem Schilf in die dunklen Lüfte erhob, um sich einen anderen Platz zu suchen.

Tote Schwaben leben länger

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