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Gegen vierzehn Uhr rief Luise auf dem Handy an, um ihm mitzuteilen, dass die Weißeneggers kurzfristig abgesagt hätten. Arnulf käme »nicht mehr vom Klo runter«, ein Darminfekt.

Querlinger grinste, schwang seine Beine vom Schreibtisch und legte das Buch beiseite, in dem er gerade gelesen hatte. Das änderte die Lage natürlich schlagartig. Er hatte es sich notgedrungen in seinem Büro so gut es ging bequem gemacht und sich darauf eingerichtet, die nächsten Stunden mit Lesen zu verbringen. Ein Kaffeenachmittag mit den Weißeneggers endete gewöhnlich gegen halb sieben. Nun konnte er vier Stunden früher nach Hause.

»Oh, das tut mir aber leid, richte ihm schöne Grüße und gute Besserung von mir aus«, heuchelte er.

»Mach ich. Wo bist du gerade, Bärle? Noch in Bad Buchau?«

»Nein, nein, ich musste noch mal kurz ins Büro, ich bin aber gleich daheim.«

»Wir könnten doch wenigstens ins Kino gehen, wenn die Weißeneggers schon nicht kommen, oder? Nachmittagsvorstellung?«

»In welchen Film?«

»In der ›Lichtburg‹ zeigen sie ›Doktor Schiwago‹.«

O Gott! Der dreistündige Schmachtfetzen mit Omar Sharif. Aber immer noch besser als ein dreistündiger Horrorthriller mit den Weißeneggers. Außerdem würde er den Schiwago für ein ausgiebiges Nickerchen nutzen können.

»In Ordnung, Mäusle. Machen wir.«

»Also, ich lass dich hier raus. Geh schon mal vor und besorg Karten. Ich seh zu, dass ich irgendwo in dieser bescheuerten Gegend einen Parkplatz kriege«, schlug Querlinger seiner Frau genervt vor.

»Okay, aber beeil dich«, sagte Luise und stieg aus.

Beeil dich! Na toll! Als ob es von ihm abhinge, einen Parkplatz zu finden.

Im selben Augenblick fand er doch einen. Kaum dass er eingeparkt hatte, ging sein Handy. Bödele. Zuerst zögerte er, ranzugehen, er fand, dass er heute schon zur Genüge den pflichtbewussten Kriminalbeamten gegeben hatte.

Dann aber siegte die Neugier.

»Hallo, Chef, halt dich fest.« Bödele klang hektisch. »Die Polizeitaucher haben nicht nur Knochen von einer, sondern von zwei Leichen gefunden. Zwei fast vollständig erhaltene Skelette. Darunter auch ein zweiter Schädel. Bis alle Knochen geborgen sind, kann es aber noch dauern. Morgen wahrscheinlich. Aber es ist kein Fall für die Archäologen, die haben wir wieder nach Hause geschickt.«

»Definitiv nicht?«

»An dem zweiten Schädel hat der Hofzitzel eine Amalgamfüllung im Gebiss entdeckt. An einem skelettierten Fuß fand sich ein Fußkettchen mit einem Sternzeichenanhänger aus Plastik. Außerdem steckte noch ein orthopädischer Schuh im Schlick.«

Amalgam, Fußkettchen mit Plastikanhänger und ein orthopädischer Schuh! Tja, da waren die Stuttgarter Archäologen tatsächlich umsonst angereist.

»Und außerdem gibt’s noch zwei Sachen, die höchst interessant sind …«

Pause.

»Dein dramaturgisches Talent in allen Ehren, Bödele, aber wenn du mir –«

»Die Füße beider Skelette waren mit Draht und Kabelbinder an einem Granitkopf festgemacht worden.«

»Was heißt Granitkopf?«

»Ja, halt an einer Skulptur. An einem Kopf, den so ein Bildhauer aus einem Stein rausgemeißelt hat. Wie sagt man noch? Irgendwas mit Bü… Bü…«

»Büste.«

»Genau.«

Das war ja übel. Mafiamethoden wie bei der Cosa Nostra? Und das am beschaulichen Federsee?

»Das heißt, sie sind ersäuft worden?«

»Nein, die Opfer wurden erschossen. Ein Schädel hat ein Loch, Ein- und Austritt des Projektils sind gut zu erkennen. Das andere Opfer wurde mit zwei Schüssen in die Brust getötet, Spuren an Rippe und Schulterblatt deuten darauf hin. Aber das muss die Gerichtsmedizin noch genauer klären. Den Granitkopf dürfte man ihnen post mortem verpasst haben. Sagt zumindest Dr. Brenner. Mehr nach der Obduktion.«

»Der Brenner? Der war auch da?«, knurrte Querlinger. Das Verhältnis zwischen ihm und Dr. Elias Brenner, stellvertretender Chef der Rechtsmedizin, konnte in etwa mit dem zwischen den Vereinigten Staaten und Nordkorea verglichen werden.

»Ja, klar, den sollen wir in so einem Fall doch immer hinzuziehen. Und zwar noch am Tat- beziehungsweise Fundort.«

Das stimmte. Brenner legte Wert darauf, sowohl den Fundort der Leiche als auch die unmittelbare Umgebung selbst zu sehen. Aber dass er sich von Ulm zum Federsee aufmachte, um sich ein paar Knochen anzuschauen, war schon sehr ungewöhnlich.

»Geschlecht der Opfer? Alter zum Zeitpunkt des Todes?«

»Beide männlich. Der eine jung, der andere deutlich älter, den Schädelnähten nach zu urteilen.«

»Hat er sich zur Liegezeit geäußert?«

»Nö! Aber wenn du mich fragst: Die liegen bestimmt schon Jahre da unten, wenn nicht Jahrzehnte.«

»Das ist mir klar, Bödele. Ich geh nicht davon aus, dass der Mörder die beiden erst vor zwei Tagen erschossen und ihnen anschließend fein säuberlich das Fleisch von den Knochen geschabt hat. Ich frag nach Auffälligkeiten, die eine zeitliche Eingrenzung erlauben.«

»Vielleicht findet der Brenner ja noch welche, wenn er sich die Knochen genauer anschaut.«

»Warten wir’s ab. Wir werden uns auf jeden Fall die Beifunde genau ansehen.«

»Kann dauern mit den Befunden, sagt der Brenner.«

»Ich sagte Beifunde, nicht Befunde, Bödele. Fußkettchen, Amalgamfüllung, Granitkopf, orthopädischer Schuh: Vielleicht liefern die brauchbare Hinweise. Apropos Granitkopf – wie hat der Mörder die Leichen daran befestigt?«

»Mit Stahldraht. Der hat ein Loch in den Granitkopf gebohrt, den Stahldraht da durchgezogen und dann an den Leichen befestigt. Der Kopf war übrigens sauschwer. Er war fast ganz im Schlick versunken und von Wasserpflanzen überwuchert, wie die Skelettteile auch.«

»Was für ein Kopf?«

»Konnte man nicht genau erkennen. War ziemlich beschädigt. Wie wenn ihm jemand mit dem Hammer im Gesicht herumfuhrwerkt hätte. Aber die Janine meint, der Kopf erinnere sie an den alten Goethe.«

Unglaublich! Dem alten Goethe mit dem Hammer die Visage poliert! Das war ja wohl an Brutalität nicht mehr zu überbieten.

»Ja, gut, der Dichterfürst war auch ein Granitkopf. Der wollte nie einsehen, dass er sich mit seiner Farbenlehre verrannt hat.«

»Ähm … Farbenlehre? Wieso? Die Büste war doch nicht farbig.«

»Vergiss es, Bödele. Sollte ein Witz sein. Ich denk, ich weiß jetzt das Wichtigste. Alles Weitere morgen bei der Lagebesprechung.«

Kurzes Schweigen.

»Bödele, bist du noch dran?«

»Ähm … ja, Chef. Wann willst du die denn ansetzen?«

»Die Lagebesprechung? So gegen zehn.«

Erneutes Schweigen. Dann: »Kann sein …«, tiefes Einatmen, »dass ich mich morgen ein bissle verspäte. Ich muss zum Arzt. Dringend!«

Schweigen. Jetzt allerdings auf Querlingers Seite. Heraufziehende Gewitterstimmung.

»Brauchst du wieder ’ne Krankmeldung, oder was?«

»Nein! Es … es geht um eine … ähm«, Presswehen bei Bödele, »also halt um eine Schwangerschaft.«

»Waaaaas?«

»Ja, die Ivanka, die hat … ähm … die hat einen Schwangerschaftstest gemacht. Und der war alles andere als negativ. Und jetzt will sie’s genau wissen und ich natürlich auch. Und deswegen geh ich morgen mit ihr zum Arzt.«

Querlinger war nicht auf den Mund gefallen, aber dieses offenherzige Geständnis seines Kollegen verschlug ihm dann doch die Sprache. Dass seine Truppe ihm hin und wieder etwas Persönliches anvertraute, war er gewohnt – aber das hier …?

»Die Ivanka! Ist das nicht die, die als Serviererin im Café Zum Türken arbeitet, deinem Lieblingscafé? Und der hast du ein Kind gemacht? Ich werd verrückt! Gratulation!«

»Herrschaftszeiten, Eugen, das ist doch noch nicht sicher. Deswegen will ich ja morgen mit ihr hin, zum Arzt. Aber dass das unter uns bleibt, gell!« Bödele klang auf einmal richtig stinkig.

»Ja, dann einen schönen Gruß an die Ivanka und alles Gute für euch zwei – beziehungsweise euch drei. Und dass das unter uns bleibt, ist selbstverständlich, keine Sorge. Aber jetzt muss ich Schluss machen, meine Frau wartet bei der ›Lichtburg‹ auf mich. Sonst krieg ich Ärger. Servus, Guntram!«

Tote Schwaben leben länger

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