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… aus dem der Kommissar keine zehn Minuten später durch einen obszönen Knall und ein hektisch gerufenes »Chef!« unsanft gerissen wurde.

»Sind Sie wahnsinnig, Angie, wollen Sie, dass ich einen Herzinfarkt kriege, oder was?«

»’tschuldigung, Chef, aber Sie hatten ja das Telefon umgestellt, wie jeden Mittag.« Angie reichte ihm einen Zettel mit der Bemerkung: »Jemand von der Stadtverwaltung Ulm hat angerufen. Zwei Ingenieure von der Abteilung Verkehrsinfrastruktur haben eine Leiche gefunden, einen Obdachlosen. Unter der Promenadenbrücke. Die Kollegen von der Schutzpolizei sind vor Ort. Die Spurensicherung ist auch verständigt.«

Querlinger hatte sich bereits erhoben, nahm seine Jacke, die über der Lehne seines Schreibtischsessels hing, und streifte sie sich über.

»Eulenburg ist in ihrem Büro?«

Angie nickte.

»Sagen Sie ihr bitte, sie soll sich fertig machen, ich warte auf dem Parkplatz auf sie.«

»Zwei Leichen im Federsee und jetzt noch ein toter Penner unter der Promenadenbrücke, so ein Mist«, knurrte Querlinger, nachdem Janine von Eulenburg zu ihm ins Auto gestiegen war.

»Tja, Chef, Leichen kommen oft im Kombipack daher. Wissen wir doch spätestens seit dem Fall Schwarze Henne. Außerdem heißt das nicht Penner, sondern Person ohne festen Wohnsitz. Etwas mehr Empathie für die sozial Benachteiligten unserer profitgeilen Gesellschaft, wenn ich bitten darf.«

»Oha, Kollegin, werden Sie jetzt zur Mutter Teresa der Obdachlosen?«

»So wenig wie Sie Bundespräsident werden mit Ihren politisch inkorrekten Formulierungen.«

Obwohl sie mit Blaulicht fuhren, brauchten sie wegen der mittäglichen Rushhour verhältnismäßig lange bis zur Promenadenbrücke. Der Zugang unter die Brücke war mit einer Flatterleine großräumig abgesperrt. Davor stand ein VW-Bus der Polizei, bei dem sich zwei uniformierte Beamte mit zwei Zivilisten unterhielten, einer der Beamten machte auf einem Klemmbrett Notizen. Querlinger trat an die Gruppe heran.

»Grüß Gott, Herr Hauptkommissar, hallo, Frau Hauptkommissarin«, grüßten die Beamten.

Sie erwiderten den Gruß. »Ich nehme an, Sie sind die beiden Ingenieure, die die Leiche entdeckt haben?«, wandte sich Querlinger an die beiden Zivilsten. Beide mochten um die vierzig sein und sahen blass aus.

»Genau. Wir sind vorhin runter, um den Zustand der Bausubstanz zu überprüfen, und da sind wir auf den Verschlag und die Leiche von dem Obdachlosen gestoßen«, sagte der Größere.

»Wann war das?«

»So gegen halb zwölf.«

»Woher wussten Sie, dass es sich um einen Obdachlosen handelt?«

»Ha, den kennt doch jeder«, mischte sich der Kleinere ins Gespräch. »Des isch der Penner, der wo immer Mundharmonika aufm Münschterplatz spielt – beziehungsweise g’spielt hot. Jetzt spielt er natürlich nicht mehr, weil, jetzt isch er hie.«

Jetzt isch er hie … Querlinger nickte verstehend. Wenn Schwaben vom Tod reden, sind sie nicht zimperlich.

»Und Sie wussten sofort, dass der Mann tot ist?«

»Ha, jetzt aber, ich bitt Sie, Herr Kommissar. Mit so ’m Schlitz im Hals, ko der nix me schwätze.«

Auch da hatte der Mann wahrscheinlich recht. Höchste Zeit, dass Querlinger sich mit eigenen Augen von dem Schlitz vergewisserte.

»Dann sehn wir uns den Herrn mal an«, meinte er zu Eulenburg. »Ziemlich feucht und schmierig hier, passen Sie auf, dass Sie nicht ausrutschen und im Fluss landen«, mahnte er besorgt, nachdem er mit ihr das Treppchen zur Blau hinuntergestiegen war und sie über den unebenen Betonstreifen balancierten, der unter die Brücke führte.

Vor einem Bretterverschlag, der schief an der Betonwand lehnte, standen zwei starke, von einer Batterie gespeiste Tatortleuchten. Ein Mitarbeiter der Spurensicherung und zwei Beamte der Schutzpolizei standen herum.

»Da drin im Verschlag liegt er, Herr Hauptkommissar. Der Kollege Hofzitzel und die Kollegin Tausendschön sind drin. Und der Dr. Brenner«, sagte der Schutzpolizist.

Die Geißel Gottes. Querlinger seufzte. Zusammen mit Eulenburg trat er näher und blickte in den Verschlag. Der Gerichtsmediziner kniete auf einer Plane neben dem Toten. Nepo machte gerade ein paar Fotos vom Inventar der Behausung: ein ausgebauter Autositz, eine umgedrehte Holzkiste, darauf eine batteriegespeiste Werkstattlampe, die natürlich aus war. Am Boden, an der Wand entlang sauber nebeneinander gereiht: ein Teller, ein zerbeulter Kochtopf, ein Esbit-Kocher, Besteck und, akribisch zusammengefaltet, eine Ausgabe des Südwestboten. Neben der Matratze, auf der der Tote lag: ein Rucksack. An die Betonwand gelehnt: ein altes Fahrrad.

»Tag zusammen«, grüßte Querlinger die Kollegen, die mit einem »Hallo« zurückgrüßten. Dr. Elias Brenner sah nur kurz auf.

Querlinger machte einen Schritt in den Verschlag und bückte sich zu dem Toten hinunter, der mit einem langen Schnitt um den Hals in einer riesigen Blutlache lag. Eigenartig: das selige Lächeln im Gesicht. Markant: der große Leberfleck auf der rechten Wange. Der Geruch ließ ihn kurz zurückzucken. Aber zumindest hatte die Anwesenheit der versammelten Truppe die Schmeißfliegen verscheucht.

»Todeszeitpunkt?«, fragte er Brenner.

»Bin ich Gott?«, eröffnete dieser den zu erwartenden Schlagabtausch.

»Zum Glück nicht, sonst müsste ich Atheist werden«, knurrte Querlinger. Er hatte die Frage falsch gestellt. Den genauen Todeszeitpunkt würde der Mediziner erst nach einer Untersuchung im Labor sagen können.

»Ungefährer Todeszeitpunkt?«

»Sie sind tatsächlich noch lernfähig. Freut mich, Querlinger«, lästerte der Gerichtsmediziner. »Dürfte grob geschätzt mehr als achtundvierzig Stunden zurückliegen.«

Querlinger beugte sich weiter herunter. Jetzt erst sah er, dass das Kinn blau angelaufen war.

»Das ist doch kein Totenfleck, oder? So wie der Tote liegt, dürften die eher am Rücken zu finden sein.«

»Ist auch keiner«, knurrte Brenner, dem es sichtlich schwerfiel, den Kommissar recht geben zu müssen. »Außerdem dürften diese Livores nicht sehr ausgeprägt sein, bei dem Blutverlust, den der Mann erlitten hat.«

»Das heißt, wir haben es mit Gewalteinwirkung zu tun. Er hat einen Schlag gegen das Kinn abbekommen«, bemerkte der Kommissar mehr zu sich selbst.

»Nein, er wurde gestreichelt!«

Hornochs, bleeder, schoss es Querlinger durch den Kopf, aber er beherrschte sich.

Eulenburg schaltete sich ein. »Entweder ein Streit oder ein Unfall also. Der Mann hatte sich vorher mit seinem Mörder gestritten, der hat ihm einen Haken verpasst, oder er ist gestürzt und mit dem Kinn aufgeschlagen.«

»So ungefähr«, sagte Brenner. »Ach ja, noch etwas.« Er zog das Hemd des Toten über dem Steißbein ein Stück weit hoch und zeigte auf die entblößte Haut. »Der Mann hat sich ein Tattoo über dem Allerwertesten stechen lassen. Ein fünfblättriges Kleeblatt. So, und nun muss ich weiter. Ich hab meine Zeit nicht gestohlen.« Sprach’s, klappte seinen Koffer zu und machte sich fluchtartig davon.

»Ein fünfblättriges Kleeblatt? Seltsam! Gibt es fünfblättrige Kleeblätter überhaupt? Also, ich meine in Gottes freier Natur«, wandte sich Querlinger an Eulenburg.

Die war bereits am Googeln.

»Es gibt tatsächlich Kleeblätter mit mehr als vier Blättern, wenn auch selten. Vielfiedrig … Sammelobjekte … den Rekord hält ein Japaner, der ein achtzehnblättriges Kleeblatt gefunden hat.«

»Wahnsinn! Vielleicht sollte er das bei Sotheby’s versteigern. – Wie schaut’s bei euch aus? Lässt sich schon was sagen?«, wandte sich Querlinger an Nepomuk Hofzitzel.

»Wir haben Faserspuren und Fingerabdrücke sichergestellt. Und einen Abfallbeutel mit Resten einer Mahlzeit: eine leere Ölsardinenbüchse, ein Kanten Brot, ein paar Krümel, ein halber Schokoriegel und eine fast leere Rotweinflasche. Den Inhalt des Rucksacks nehmen wir uns im Labor vor. Das Fahrrad kommt in die Asservatenkammer, zusammen mit den anderen Utensilien, die hier rumliegen. Wird aber dauern, bis alle Ergebnisse vorliegen. – Ach ja, hätte ich beinahe vergessen. Wir haben auch ein Durcheinander von Sohlenabdrücken von drei Paar Schuhen auf dem glitschigen Boden sicherstellen können.«

»Auf den ersten Blick also nichts Außergewöhnliches.«

Hofzitzel schüttelte den Kopf. »Es sei denn, die Kappe, die der Mann trägt, sieht man als was Besonderes an.«

»Sieht irgendwie orientalisch aus«, knurrte Querlinger.

»Und ziemlich teuer. Goldborte, komplexe Stickereien, richtig wertvoll, vermute ich mal«, ergänzte Hofzitzel.

»Das ist ein Araberkäppi. Nennt man ›Taqiyah‹«, belehrte Eulenburg ihre Kollegen. »Wird gelegentlich auch von Europäern getragen. – Moment, hier ist noch was.« Sie bückte sich und drehte gleich darauf einen Bleistift in der behandschuhten Rechten. Er trug eine Aufschrift: »Tabak und Zeitschriften B. Vogtländer«.

»Woher haben Sie den?«, fragte Nepo.

»Lag da unten neben der Matratze in einer Betonritze.«

»›Tabak und Zeitschriften B. Vogtländer‹. – Das ist doch der Kiosk beim Busbahnhof«, meinte Querlinger.

»Richtig. Nicht weit von hier. Vielleicht kannte er den Kioskbesitzer.«

»Vielleicht. Sicher hatte er noch andere soziale Kontakte. Wir werden uns im Milieu umschauen müssen. – Wir packen’s dann, Nepo. Wann, schätzt du, hören wir von dir?«

»Morgen Vormittag.«

Querlinger wandte sich zum Gehen, Eulenburg folgte ihm. Noch hatten sie den tunnelartigen Bereich unter der Brücke nicht verlassen, als der Schatten eines Mannes den Ausgang verdunkelte. Gleich darauf tauchte der Schattenwerfer höchstpersönlich auf.

»Der Depp hat mir gerade noch gefehlt. Wie konnten die den überhaupt durchlassen? Der Zugang ist doch abgesperrt«, schimpfte Querlinger nicht gerade leise.

Dieter Oxheimer grinste höhnisch.

»Tja, da hab ich als investigativer Journalist so meine Tricks, Querlinger. Solltest du doch allmählich wissen. Im Interesse der Aufklärung der Bürger ist Kreativität gefordert.«

»Du bist ein kreativer Lügner und Desinformierer, Oxheimer. Der mündige Ulmer Bürger weiß, was er von deinen Schauermärchen halten muss. Und jetzt sieh zu, dass du Leine ziehst, hier unten ist ein Tatort, an dem gerade ermittelt wird.«

»Weiß ich, Querlinger, weiß ich, deswegen bin ich ja da. Du hast die dritte Leiche an der Angel. Drei unaufgeklärte Morde – dass dir da als leitendem Ermittler der Arsch auf Grundeis geht, kann ich gut verstehen.«

Querlinger wollte ohne Kommentar einfach weitergehen, doch Oxheimer wich nicht von der Stelle, an der es räumlich ziemlich eng herging. Und glitschig …

»Komm schon, Querlinger. Gib mir wenigstens ein paar Infos, dann kann ich dein Image in der Öffentlichkeit etwas aufpolieren.«

»Noch ein Wort, und ich polier dir gleich was auf, Oxheimer. Ich warne dich. Lass uns vorbei.«

»Mensch, Querlinger, sei halt nicht so …«

In diesem Moment geriet der Kommissar unverständlicherweise ins Rutschen, allerdings nur leicht. Dabei stieß er dem vor ihm stehenden Reporter aus Versehen – wie er später sagen sollte – den Ellenbogen in die Rippen. Oxheimer, so aus dem Gleichgewicht gebracht, wäre fast auf den glitschigen Beton geknallt, hätte Querlinger ihn nicht am Kragen gepackt und festgehalten. Sanft ließ er ihn auf den schmierigen, mit Schlamm und Algen kontaminierten Betonuntergrund hinuntergleiten.

»Oh, um Himmels willen, Oxheimer, hast du dir wehgetan? Entschuldigung, aber ich bin ausgerutscht! Soll ich dir aufhelfen?«

Mit einem Satz, den man ihm bei seiner Figur gar nicht zugetraut hätte, sprang der Reporter auf.

»Das wirst du büßen, ich hab Verbindungen!«, zischte er und stapfte fluchend in Richtung Ausgang davon.

Tote Schwaben leben länger

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