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V.1. Die programmatische Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur des Naturalismus V.1.1. Theoretische Voraussetzungen
ОглавлениеDer Biologe und monistische Philosoph Ernst HaeckelHaeckel, Ernst, der die Thesen des Darwinismus in seinen auflagenstarken, populärwissenschaftlichen Werken beim deutschsprachigen Publikum verbreitete, erklärt in seinen „gemeinverständlichen Studien“ Die Welträtsel (1899) die neue Sicht auf den Menschen. Dieser ist weder ein aus der Natur herausragendes, von GottGott als sein EbenbildGottebenbildlichkeit geschaffenes Wesen, noch zeichnet er sich durch eine Doppelnatur (Leib vs. Seele / VernunftVernunft) aus.1 Es gibt vielmehr nur eine Substanz; der Mensch, dessen Verwandtschaft mit dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung seit Darwin als erwiesen gilt, ist das Resultat einer genau nachzuvollziehenden Evolution. In Haeckels streng deterministischem Menschenbild findet die WillensfreiheitWille, freier Wille keinen Platz mehr. Jede menschliche Handlung ist von der inneren Disposition des Einzelnen sowie den äußeren Umständen abhängig, gehorcht letztlich den Gesetzen von Vererbung und Anpassung an die Lebensbedingungen.2 Gleichwohl betrachtet Haeckel die Vernunft immer noch als des Menschen „höchste[s] Gut“ und als „de[n]jenige[n] Vorzug, der ihn allein von den Tieren wesentlich unterscheidet“.3 Die Vernunft und der Grad ihrer Ausbildung sind jedoch ebenfalls Resultat der Evolution und abhängig vom Einfluss äußerer Umstände. Diese Theorie versucht Wilhelm BölscheBölsche, Wilhelm in seiner Programmschrift Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie für die aufstrebende naturalistische Strömung fruchtbar zu machen. Gerade die „Thatsache der Willensunfreiheit“ rückt er in den Vordergrund:
[W]enn sie nicht bestände, wäre eine wahre realistische Dichtung überhaupt unmöglich. Erst indem wir uns dazu aufschwingen, im menschlichen Denken Gesetze zu ergründen, erst indem wir einsehen, dass eine menschliche Handlung […] das restlose Ergebniss gewisser Factoren, einer äussern Veranlassung und einer innern Disposition, sein müsse und dass auch diese Disposition sich aus gegebenen Grössen ableiten lasse, – erst so können wir hoffen, jemals zu einer wahren mathematischen Durchdringung der ganzen Handlungsweise eines Menschen zu gelangen und Gestalten vor unserm Auge aufwachsen zu sehen, die logisch sind, wie die Natur.4
Die künstlerischeKunst, Künstler Darstellung des Menschen fußt auf wissenschaftlichen Gesetzen und beachtet die Faktoren Erziehung, Vererbung, Gewohnheit und die vom französischen Philosophen Hippolyte TaineTaine, Hippolyte formulierten Basiskategorien race, milieu und moment.5 HaeckelHaeckel, Ernst und BölscheBölsche, Wilhelm setzen wesentliche Begründungsmuster der Menschenwürde außer Kraft: Der Mensch ist nicht per se der SchöpfungSchöpfung überlegen, sondern nur, insofern er ein besonders weit entwickeltes TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung ist; seine Handlungen sind nicht autonomAutonomie, sondern Ergebnis verschiedenster Einflüsse; VernunftfähigkeitVernunft an sich kann für die Zuschreibung von Würde nicht entscheidend sein, denn der Grad ihrer Ausprägung ist ebenfalls den Gesetzen von Evolution und Vererbung unterworfen.
Obwohl die Erkenntnisse der sich rasant entwickelnden Natur- und Sozialwissenschaften den Menschen seines Status als per se der restlichen Natur überlegenes Wesen berauben, bleibt der Mensch weiterhin das Hauptsujet literarischer Produktion. Die Literatur behält sogar nach BölscheBölsche, Wilhelm ihre aufklärerische Rolle als „Erzieherin des Menschengeschlechts“, kann sie doch nur so mit den Wissenschaften Schritt halten im Bestreben, „den Menschen gesund zu machen“.6 Die Idee der Menschenwürde wird keineswegs verabschiedet, wie Bölsche und andere explizit festhalten. Trotz des naturwissenschaftlichen Fortschritts bleibe der Mensch, so Bölsche, „was er ist. Das raubt ihm niemand. Es bleiben alle seine Ideale“.7 Emphatisch beschwört Michael Georg ConradConrad, Michael Georg das Ziel seiner Generation, einen „Tempel der HumanitätHumanität“ zu errichten und „das vernünftigVernunft verfasste […] Programm einer menschenwürdigen Existenz in unablässiger Arbeit an und um uns [zu] verwirklichen“, denn: „Der Mensch ist Selbstzweck.“ Conrad entfaltet die geradezu utopische Vision eines „Kampf[es] […] um die idealen Güter der Menschheit. Damit finden wir eine sichere, würdige Richtung für unsere gesamte Lebenspraxis und in ihr jene sittliche, reinhumane Kraft, in der allein alle Menschenerlösung beschlossen liegt.“ Mittel dieser ‚Erlösung‘ soll eine „naturalistisch begründete[], lautere[] Ethik“ sein.8 Hermann ConradiConradi, Hermann schließlich formuliert zusammenfassend jene Faktoren, die den Kampf des KünstlersKunst, Künstler um „wahre[] Geistesfreiheit“ ausmachen:
[D]as klare, aus unparteiischer Selbstprüfung, durch energische Selbstarbeit gewonnene Bewußtsein des eigenen Wertes; eine deutliche, unbeirrte, durchschauende Einsicht in die Dinge, in die Relativität der Beziehungen; eine felsenfeste Überzeugung von der Würde und dem Werte natürlicher MenschenrechteMenschenrechte; eine gewisse historische Philosophie, eine auf pessimistisch-positivistischer Grundlage aufgebaute Weltanschauung, die das natürliche, naturbedingte Maß der logisch notwendigen Umbildung ohne Scheu […] an die Erscheinungen des Lebens legt!9 (Herv. i.O.)
Als „Mission des Dichters“ sieht ConradiConradi, Hermann das „Erreichen einer reinen vorurteilsfreien HumanitätHumanität“, die den von den darwinistischen Theoremen vermeintlich ‚erniedrigten‘ Menschen ungemein aufwertet, da sie in ihm „den Besitzer natürlicher Rechte, den Träger einer natürlichen FreiheitFreiheit sieht, nicht den Stoff, die Ware, um die gefeilscht und gemarktet wird“.10
Dies sind die zwei widersprüchlichen Voraussetzungen der naturalistischen Literatur: einerseits das Wissen um die Bedrohung, ja die wissenschaftliche Infragestellung der Menschenwürde durch die DeterminismuslehreDeterminismus, andererseits der Vorsatz, die Idee innerhalb der Literatur zu verteidigen, ja mit literarischen Mitteln zu reformulieren. Die KunstKunst, Künstler müsse deshalb „rein menschlichen Ursprungs“11 sein, fordert etwa ConradConrad, Michael Georg AlbertiAlberti, Conrad. Die fünfte der auf Eugen WolffWolff, Eugen zurückgehenden Thesen der freien litterarischen Vereinigung „Durch!“ besagt:
Die moderne Dichtung soll den Menschen mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit zeichnen, ohne dabei die durch das Kunstwerk sich selbst gezogene Grenze zu überschreiten, vielmehr um durch die Grösse der Naturwahrheit die ästhetische Wirkung zu erhöhen.12
Dem naturalistischen Dichter erschließen sich Themen, die einem traditionellen Kunstverständnis als tabuisiert oder nicht kunstfähig galten, da es, so AlbertiAlberti, Conrad, in der Natur „kein[en] Winkel, kein[en] Fleck, kein Geschöpf, kein[en] Vorgang […], der nicht der künstlerischenKunst, Künstler Verkörperung würdig und fähig werde“, gibt.13 Um den Menschen dem Ziel der HumanitätHumanität näher zu bringen, darf, ja, muss sich die Literatur also auch mit dem vermeintlich Würdelosen befassen. Menschenwürde rückt in die Nähe des Begriffs Menschlichkeit; die Aufmerksamkeit gilt insbesondere den Bedingungen der Möglichkeit von Menschlichkeit und Menschenwürde.