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ОглавлениеWilliam hatte sein Geschäft erreicht. Er war jedoch auf der anderen Straßenseite, denn bevor er es öffnen würde, ging er wie jeden anderen Tag in das gegenüberliegende Restaurant Madelaine. Mit dem Schritt durch die Tür unter der Neonreklame ließ er die Angst hinter sich.
Der Innenraum des Lokals war einem typisch amerikanischem Diner aus den fünfziger Jahren nachempfunden. Große Fenster mit abgerundeten Ecken an der Straßenseite. An der gegenüberliegenden Wand zahlreiche Spiegel und Blechschilder mit Werbung. Dazwischen lange Reihen aneinandergeschraubter Bänke, mit Ledersitzen und Tischen, ähnlich einem Zugabteil.
Wie so oft, wenn William eintrat, war es fast leer. Die meisten Gäste waren schon auf der Arbeit oder würden erst noch zum Brunch kommen. Nur Jack Harsen – einige meinten, er sollte seinen Nachnamen in Daniel umändern – saß in der hintersten Ecke und trank seinen Kaffee. Vielmehr, sein Kopf lag auf dem Tisch und die Tasse stand daneben. Die Sucht begann als er arbeitslos wurde, vor etwa einem Jahrzehnt. Seitdem war er jeden Morgen Dauergast und genoss Hits aus den Siebzigern und Achtzigern, die das Radio ausspuckte. Eine bessere Zeit, zumindest für ihn.
„Hey Jack.“
Keine Reaktion. William wollte ihn nicht stören, beachtete ihn daher nicht weiter und näherte sich stattdessen der Theke. Diese war so breit wie der Raum selbst, mit einem Durchgang, etwa in der Mitte. Davor Edelstahlhocker, natürlich auch mit Ledersitzen. Dahinter erneut der Schriftzug „Madelaine’s“ als Neonreklame, weitere Spiegel und Schilder und natürlich die Speisekarte. Dazwischen auch die Tür zur Küche. Das Interessanteste für William stand jedoch direkt hinter der Theke. Dieses Lächeln, welches ihn seit zwanzig Jahren begrüßte, ließ beinahe alle Sorgen verfliegen.
„Da ist ja mein Lieblingsbuchhändler. Guten Morgen William.“
„Guten Morgen Linda, meine Lieblingsbedienung, die selbst in dieser Schürze noch gut aussieht.“
Dafür brauchte William nicht zu lügen. Im Gegensatz zu ihm zierten erst wenige, kaum sichtbare Falten ihr Gesicht. An ihrer glänzenden brünetten Mähne sah man kein einziges graues Haar. Letztes Jahr hatte zwar eine Fünf die Vier an erster Stelle ihres Alters ersetzt, doch ihrem Aussehen nach, hätte es auch noch eine Drei sein können. Dafür sprachen auch die Avancen von Männern in diesem Alter, die nicht selten waren. Jogging und Yoga neben guter Ernährung waren dafür verantwortlich.
William nahm seinen Hut ab. Er war nicht ungepflegt, doch sein schütteres Haar war so durcheinander wie sein Kopf. An seinem gewohnten Stammplatz am Fenster in erster Reihe ließ er sich nieder. Sein Rücken knackte.
„Ah, meine Knochen werden auch nicht mehr jünger.“
„Ach komm, du scheinst mir noch immer so fit, wie du das erste Mal in mein Restaurant gekommen bist.“
„Schön wär's.“ Ihm war bewusst, dass er nicht mehr der Jüngste war und das Alter ihm langsam seinen Tribut abverlangte. Die Einladungen von Linda, mit ihr zu trainieren, schlug er immer wieder aus. Er hatte es probiert, doch nach dem ersten Kilometer zu schnaufen, wie ein Läufer nach einem Marathon, hielt er nicht für besonders vielversprechend. Auch ihre Aussagen, dass es von Mal zu Mal besser werden würde, halfen nicht ihn zu überreden weiterzumachen.
„Ist so, auch wenn die Ringe unter deinen Augen für zu wenig Schlaf sprechen. Irgendetwas nicht in Ordnung? Die hast du nun schon seit, hm … gut zwei Wochen?“
Das war das Einzige, was er nicht vor ihr verbergen konnte. In ihrer Nähe fühlte er sich gut. Die Müdigkeit verflog jedes Mal, sobald er sie sah, so wie die Angst vor ihrer Tür blieb.
„Doch, alles in Ordnung. Ich lese nur etwas zu viel und bleib daher oft zu lange wach.“ Er belog sie nicht gerne, aber er wollte sie auch nicht beunruhigen. Die Träume und was damit zusammenhing, waren sein eigenes Problem.
„Okay“, sagte sie. Doch es war nicht wirklich okay. Auch wenn sie ihn sehr mochte, oder gerade deswegen, glaubte sie ihm diese Aussage nicht. Neben den müden Augen hatte er zudem einen Vollbart bekommen, was vorher gar nicht sein Stil war. Ihr war auch nicht entgangen, dass er in den letzten Wochen einiges an Gewicht verloren hatte. Er war schon immer schlank, doch nun wirkte er hager, beinahe abgemagert. Seine Wangenknochen traten zunehmend hervor und an den Händen konnte man jeden einzelnen Knochen sehen.
Aber sie wollte, dass er von alleine mit ihr redet, sie wollte ihn nicht dazu zwingen. Stattdessen ließ sie dieses Thema beiseite. Irgendwann würde er mit der Sprache rausrücken, bestimmt.
„Was darf ich dir denn heute bringen?“
„Dasselbe wie jeden Morgen“, antwortete er.
„Ok, dasselbe wie jeden Morgen, Kaffee und Ei mit Schinken. Kommt sofort.“
Linda Smith wanderte schon als kleines Kind mit ihrer Familie in die USA ein. Nach der Schule arbeitete sie einige Jahre als Kellnerin, bevor sie mithilfe ihrer Eltern ihr eigenes Restaurant eröffnete. Benannt hatte sie es nach ihrer Großmutter, die wenige Wochen zuvor verstarb. William war bei Weitem nicht ihr einziger, aber ihr erster Stammgast. Von Beginn an kam er gerne hier her, nicht nur wegen des guten Essens.
Das hättest du eventuell auch haben können, alter Knabe, dachte William, als er durchs Fenster sah. Auf dem Gehsteig betrachtete er eine junge Frau mit einem deutlich älteren Herren an der Seite, Arm in Arm. Hätte er etwas mehr über seine Schulter gesehen, hätte er eventuell auch den Mann bemerkt, der ihm gefolgt war und nun vor dem Restaurant auf ihn wartete. Doch die verschwommene Gestalt in seinem Augenwinkel interessierte ihn nicht weiter. Zu sehr war er in seinen Gedanken versunken. Gedanken über sich und Linda, die ihm öfter durch den Kopf gingen, wenn er, wie jetzt, in ihrem Restaurant saß und auf die Lincoln-Avenue hinaussah.
Zehn Jahre trennten die beiden. Doch es war nicht der einzige Grund, dass er es nie bei ihr versucht hatte. Er kam nur sechs Monate vor der Eröffnung ihres Geschäfts und ihrem ersten Aufeinandertreffen in Chicago an. Die Last der Vergangenheit und der Gegenwart ließen ihn damals wenig an Sachen wie eine neue Liebe denken. Zeitweise war sie auch vergeben. Mittlerweile hielt er es für zu spät. Immerhin verband sie eine gute Freundschaft.
„So bitte, Kaffee und Ei mit Schinken. Wohl bekomms der junge Herr.“
Noch immer eine Schönheit. Er sah sie wie ein verliebter Teenager an - nur nicht ganz so albern, sein Mund war geschlossen.
„Iss lieber, bevor es kalt wird, statt mich anzustarren.“
Er fing sich im Leuchten ihrer grünen Augen, die ihm zuzwinkerten. Ihre Lippen waren erneut zu einem Lächeln geformt. Diesen Mund hätte er gerne öfter geküsst, als ein einziges Mal zu Weihnachten, vor gut neun Jahren, unter einem Mistelzweig. Auch wenn er kein Kind von Traurigkeit war, die meisten Nächte der vergangenen zwei Jahrzehnte verbrachte er alleine.