Читать книгу Lagunenmorde: Detektiv Volpe ermittelt: 5 Venedig Krimi-Bücher - Meinhard-Wilhelm Schulz - Страница 34

1. Teil: Dramatisches in Volpes Palazzo

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Wenige Tage nach Erhalt des Briefes aus Rom hockten wir in Volpes Wohnzimmer und ließen uns von Giovanni einen edlen Tropfen kredenzen. Mein Kumpel schlürfte ihn genießerisch und nörgelte dann an der Untätigkeit und Unfähigkeit der venezianischen Verbrecherwelt herum, die ihn zur Langeweile verdamme.

Verärgert lehnte er sich im geliebten Korbsessel zurück und starrte vor sich hin, die Fingerspitzen aufeinander gepresst, als ein wüstes Klingeln in die Halle eindrang. Wir spitzten die Ohren und vernahmen Giovanni begütigend auf jemand einreden, der mit einem eher hysterisch zu nennenden Geschrei antwortete, das im kreischenden Ruf nach meinem Freund gipfelte.

Da ließ Giovanni den Fremden ein. Statt sich aber vom treuen Butler zu uns hinein geleiten zu lassen, stürzte er mit Riesenschritten ins Innere des Raumes mit seinen vier korinthischen Säulen, auf denen die holzgetäfelte Decke ruht.

Es war ein geschmackvoll gekleideter dunkelblonder junger Spund. Keuchend hielt er vor uns inne, um von einem zum anderen zu sehen, bis seine Blicke auf Volpe haften blieben. Er zitterte am ganzen Leib und war sich der Ungehörigkeit seines Eindringens bewusst.

»Signori, verzeihen Sie mir bitte diesen unmöglichen Auftritt und nehmen Sie mir mein Benehmen nicht übel, aber ich bin der todunglückliche Tito Cornelio Dolabella.«

Seinen auf vornehme Herkunft schließenden Namen hatte er genannt, als ob er glaubte, jedermann müsse ihn kennen. Doch Volpe blickte ihn nur mit einer Mischung von Belustigung und Überraschung an und sagte:

»Hier, Signore Dolabella! Nehmen Sie den Becher und trinken Sie! Das wird Ihnen gut tun.

Wenn ich mir eine Bemerkung gestatten darf: Ihr Zustand, so scheint es, fällt eher ins Fachgebiet meines Freundes, des Doktor Sergiu Petrescu. Gewiss ist Ihnen das allzu warme Wetter auf die Leber geschlagen. Daher sollte Ihnen die angenehme Kühle unseres Hauses gut tun. Nehmen Sie bitte Platz!

Was aber das anbetrifft, dass Sie uns Ihren Namen nannten, so sollten Sie wissen, dass ich ihn noch nie gehört habe. Ich weiß nur, dass Sie alleinstehender Junggeselle, Freund der Leichtathletik, sowie Rechtsanwalt sind. Das ist, abgesehen davon, dass ich Ihr Alter auf etwa siebenundzwanzig schätze, auch schon alles; oder doch nicht: Vielleicht sollten Sie den Barbiere wechseln oder sich einen elektrischen Rasierapparat leisten.«

Ich kannte die Methoden meines Freundes und folgte seinen Gedanken: Unser Besucher hatte, wie die Beschriftung verriet, einen Ordner juristischer Papiere bei sich. Am gepflegten, aber dennoch nicht korrekten Zustand seiner Kleidung (weißes Hemd mit silberner Krawatte; dunkelgraue Bermudas; schwarze Halbschuhe der Marke Balli) war abzulesen, dass sich keine liebende Frau um ihn kümmerte. Ferner zeigten seine kräftigen Arme und die unterhalb der Bermudas hervorragenden Stachelwaden, dass unser Klient ein sportliches Leben zu führen gewohnt war. Nicht zuletzt zeugte eine kleine Verletzung auf der linken Wange von der Ungeschicklichkeit des Barbiers.

Unser junger Freund, der von alledem keine Ahnung hatte, schien verblüfft zu sein und murmelte:

»Alles, was Sie sagen, stimmt. Sind Sie ein Hexenmeister? Nun, viel wichtiger als solche Kleinigkeiten ist jedenfalls, dass mich das Unglück ereilt hat. Um Gottes willen, bitte nehmen Sie sich meines Falles an, damit ich Ihnen schildern kann, was sich in Wirklichkeit zugetragen hat. Meine Verhaftung steht nämlich unmittelbar bevor. Wenn ich dann im Paduaner Gefängnis stecke, dann wird es mir ein Trost sein, Venedigs größten Detektiv an meiner Seite zu haben.«

»Man will Sie verhaften, ausgerechnet Sie?«, fragte Volpe ungläubig und meinte dann: »Ja, das wäre, in der Tat, äußerst interessant. Wie lautet die Beschuldigung?«

»Signore Gaio Urbano aus Treviso soll ich ermordet haben.«

Ich sah Volpe ins Gesicht. Seine Züge spiegelten eine Mischung von Mitleid und Genugtuung wider. Er kicherte dann verhalten: »Und gerade eben habe ich mich noch beklagt, dass hier in der Serenissima nichts mehr los sei und die Verbrecherwelt auf der faulen Bärenhaut liege.«

In diesem Augenblick kam Giovanni hereingeschneit, der dafür zuständig ist, sämtliche in der Presse veröffentlichten Kriminalfälle im Computer unterzubringen. Er hatte einen Teil unseres Disputs noch mitbekommen und rief:

»Signore Tartini, wenn ich Ihnen das da vorlesen darf, dann werden Sie begreifen, warum unser Gast schon so früh am Morgen erschienen ist. Sein Fall wird bald überall bekannt sein. Wenn man nichts dagegen hat, will ich also vortragen, was unser guter alter Maestro Alberto Scimmia in der Online-Ausgabe des Corriere della Sera publiziert hat.«

Volpe gab ihm mit einem Wink zu verstehen, dass er beginnen sollte. Giovanni las folgenden Artikel vor:

»Geheimnisvoller Kriminalfall in der Nähe von Treviso. Der Besitzer einer ortsansässigen Manufaktur für Tonskulpturen ist verschwunden. Vermutlich handelt es sich um Mord und vorsätzlich gelegten Brand. Die hiesigen Carabinieri unter Capitano Marcello sind dem Täter bereits auf der Spur.«

Unser nervöser Besucher unterbrach den Vortrag.

»Genau das ist es ja, Signore Tartini, was man mir zur Last legt. Dass man hinter mir her ist, ahne ich. Von der Anlegestelle Ospedale aus bis zum Campo dei Santi Giovanni e Paolo sind sie mir auf den Fersen gefolgt. Jeden Augenblick müssen sie hier sein, um mich zu verhaften. Oh, mein Gott, wie soll ich das überstehen? Und wenn nur nicht auch noch meine Mutter in die Sache hineingezogen wird! Das könnte ich nicht überleben.«

Wie im Fieber rang er die Hände und rutschte im Korbsessel, in welchem er sich niedergelassen hatte, aufgeregt hin und her, während ich diesen Mann, der da eines brutalen Verbrechens beschuldigt wurde, mit wachsendem Interesse betrachtete.

Es war ein auffällig hübscher Junge mit großen, erschrocken wirkenden blauen Augenteichen und etwas zu langem, über den Kragen hängendem Blondhaar. Bedenkenlos hätte ich ihn für unfähig gehalten, jemals ein Verbrechen zu begehen.

Volpe knurrte ungeduldig: »Lieber Giovanni, lesen Sie bitte weiter, was Freund Scimmia da zum Besten gibt. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Der Butler nahm wieder das Wort:

»Am späten gestrigen Abend wurde bei Treviso offenbar ein Verbrechen verübt. Vermutlich ermordet wurde Gaio Urbano, einer der als steinreich geltenden Honoratioren der Stadt. Er ist alleinstehend und gilt als zurückhaltend und verschlossen. Seit einigen Jahren lebt er im Ruhestand. Die Führung seiner Manufaktur hat er einem Angestellten anvertraut.

In der vergangenen Nacht ging sein Holzlager – es liegt hinter seiner Villa – in Flammen auf. Jeder Versuch, den Brand zu löschen, kam zu spät, und als Marcello, der vorzügliche Capitano, mit seinen Carabinieri eintraf, um den Vorfall zu untersuchen, war Signore Urbano verschwunden.

Das Schlafzimmer im Obergeschoss war unbenutzt. Das Schloss zum Tresor, in dem Urbano seine Wertgegenstände aufbewahrte, geöffnet. Alle möglichen Papiere waren wüst über den Boden verstreut. Ein Kampf auf Leben oder Tod scheint im Raum stattgefunden haben, wie etliche Blutspritzer verraten. Ferner fand man einen eichenen Stock, dessen verdickter Griff mit Blut beschmiert war. Das deutete darauf hin, dass ihn der Täter umkehrte, um seinem Opfer damit den Schädel einzuschlagen.

Marcello erfuhr von der uralten Haushälterin, dass Urbano noch tief in der Nacht einen Besucher empfangen habe, und zwar den Rechtsanwalt Cornelio Dolabella aus Padua. Der Stock wurde als sein Eigentum identifiziert. Marcello ist daher der Überzeugung, dass Dolabella der gesuchte Mörder ist. Darauf deuten noch weitere Indizien hin: Im Erdgeschoss fand man eines der Fenster sperrangelweit offen stehend vor. Ein schwerer weicher Gegenstand muss die Treppe hinunter und durchs Fenster nach draußen geschleift worden sein. Nicht zuletzt gelang es dem Capitano, ein paar bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Knochenreste aus dem immer noch glimmenden Holzstoß heraus zu bergen und der Obduktion zuzuführen. Er glaubt, dass der Täter sein Opfer erschlagen und dann, um die Spuren zu verwischen, verbrannt hat. Daher hat er seine Festnahme beantragt. Sie steht unmittelbar bevor.«

Giovanni schwieg. Die Augen geschlossen, im Sessel zurückgelehnt und die Fingerkuppen aufeinander gepresst, hatte Volpe den Worten unseres aufgeregten Besuchers sowie dem Artikel des Scimmia gelauscht. Schläfrig murmelte er dann:

»Gar nicht übel! Immerhin enthält es einige interessante Aspekte. Aber wie kommt es, mein Lieber, dass Sie nach den obigen Anschuldigungen noch frei herumlaufen?«

»Das ist so, Signore Tartini, normalerweise wohne ich bei meiner früh verwitweten Mutter in der Via Veneta. Genau einen Stock unter ihr besitze ich meine eigene Behausung, ganz in der Nähe des Zentrums von Padua, unweit der Basilica del Santo mit der herrlichen Reiterskulptur des Donatello davor.

Da ich gestern noch spät in der Nacht bei Signore Urbano zu tun hatte, übernachtete ich im Carlton Hotel. Es liegt in der Nähe des Bahnhofs von Treviso. Von dort aus nahm ich mir im Laufe des erwachenden Tages, nachdem ich mich vom Bahnhofs-Barbier hatte rasieren lassen, einen Zug nach Padua, um mich durch ein Taxi unmittelbar ins Büro bringen zu lassen. Ich betreibe es mit meinem Partner, dem etwas älteren Anwalt Marco Catullo.

Als ich in die Firma gelangt war, wollte ich meine Geschäfte in Angriff nehmen und hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was bereits in den Radionachrichten verkündet worden war, bis meine Sekretärin mit der Schreckensbotschaft hereinplatzte und mir sagte, dass man nach mir fahndete.

Naturgemäß begriff ich auf der Stelle, wie prekär meine Lage war und stürzte mich Hals über Kopf aus dem Haus, rannte zum Bahnhof, nahm den nächstbesten Zug nach Venedig, wo ich mich ganz gut auskenne, stieg in den erstbesten Vaporetto der Linie 4.1 oder 4.2, egal welchen, um am Haltepunkt Ospedale (Hospital) auszusteigen und zu Fuß westwärts zu eilen.

Der Weg am Ospedale dei Santi Giovanni e Paolo vorbei zur gleichnamigen Basilica und danach über die zugehörige Piazza bis hierher zu Ihnen, Signore Tartini, ist in wenigen Minuten zu bewältigen.

Hätte ich das nicht getan, dürfte meine Verhaftung längst erfolgt sein. Doch seit ich den Vaporetto verlassen hatte, folgte mir beharrlich wie ein Schatten ein gewisser Mann und heftete sich an meine Fersen. Oh Gott, jetzt ist er da!«

Signore Dolabella schlug sich die Hände vors Gesicht, während wüstes Wummern die Haustüre erschütterte; dazu herrische Rufe einer typischen Kontrollbeamtenstimme, die unserem Giovanni den barschen Befehl erteilte, sofort zu öffnen, so ihm das Leben lieb sei, hinzufügend, dass auf unverschämte Hausdiener der Knast zu Padua warte.

Kaum hatte unser Butler die Pforte geöffnet und ein paar Worte gestammelt, polterten schwere Schritte durch die Eingangshalle, und schon stampfte mit hochrotem Kopf unser guter alter Freund Giulio Marcello, seines Zeichens Capitano bei der Stadtwache, gefolgt von zwei uniformierten Carabinieri ins Zimmer, wo wir drei gemütlich beieinander saßen, und brüllte, statt höflich zu grüßen, wütend und grimmig zugleich:

»Signore Tito Cornelio Dolabella, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Mordes, begangen an Gaio Urbano zu Treviso. Erheben Sie sich und folgen Sie uns unauffällig!«

Der junge Mann streckte seine Arme hilfeheischend zu Volpe aus und blieb kraftlos im Korbsessel sitzen.

»So schnell schießen nicht einmal die Preußen«, bemerkte Volpe trocken, »ein halbes Stündlein Verzug wird die Sache doch wohl noch verkraften, ohne dass Venedig im Meer versinkt?«

Marcello fuchtelte mit abwehrenden Handbewegungen in der Luft herum.

Volpe sagte: »Aber unser lieber guter Besucher ist doch gerade dabei, seine Version der Ereignisse aufzutischen. Wie wäre es, ihm zuzuhören? Vielleicht trägt es ja zur Lösung des Falles bei.«

»Als ob es da noch was zu klären gäbe; ein primitiver Mord; nichts für überintelligente Privatdetektive«, höhnte Marcello.

»Dennoch bitte ich Sie darum, mir Gelegenheit zu geben, seine Darstellung anzuhören. Der junge Mann ist mein Klient.«

»Nun gut«, sagte der Capitano gedehnt, »ich weiß natürlich, dass Sie uns von den Carabinieri in letzter Zeit manchmal einen nützlichen Tipp gegeben haben. Daher fällt es mir schwer, Ihnen den Gefallen zu verweigern.«

Marcello wand sich. Er sah auf den Angeklagten.

»Und ich denke, dass Fluchtgefahr besteht. Nun gut, soll er reden, während meine Männer den Eingang besetzt halten. Verehrter Signore Dolabella, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass alles, was Sie sagen, gegen Sie verwendet werden kann.«

»Ich will ja aussagen«, rief Dolabella, »das ist ja mein sehnlichster Wunsch; und ich schwöre, ich werde Ihnen nichts als die reine Wahrheit sagen.«

Marcello holte umständlich aus seiner schwarzledernen Tasche ein kleine Uhr heraus, stellte sie so auf den Tisch, dass man sie gut sehen konnte und grummelte: »Binnen dreißig Minuten müssen wir gehen.«

»Ich will damit beginnen«, sagte Signore Dolabella, »zu beteuern, dass ich so gut wie nichts von Gaio Urbano weiß. Ich kenne seinen Namen nur aus dem Mund meiner Mutter. In Jugendjahren, so sie, war sie eine Zeitlang mit ihm befreundet, vielleicht sogar verlobt, bevor sie sich meinem Vater zuwendete.

Und da war es eine riesige Überraschung, dass sich ein Mann dieses Namens gestern Vormittag in meinem Büro einfand. Als er mir den Grund nannte, staunte ich nicht schlecht, denn ...«

Unser jüngster Klient hatte ein paar juristische Papiere in einer entsprechenden Mappe mitgebracht, legte sie vor mich auf den Schreibtisch und rief scheinbar zusammenhanglos: »Hier lesen sie, Signore Tartini!«, um so fortzufahren:

»Urbano sagte mir nämlich, er habe den Entwurf seines Testamentes mitgebracht. Mir falle die Aufgabe zu, alles in die juristisch einwandfreie Form zu gießen. Er wolle solange warten, bis alles fertig formuliert sei.

Ich hockte mich also hin, um als Notar zu arbeiten, aber während ich damit beschäftigt war, wuchs mein Staunen ins Unermessliche. Ich las nämlich, dass er meine Mutter und mich zu gleichen Teilen als alleinige Erben seines Vermögens einsetzte. Mit so etwas hatte ich nicht gerechnet.

Während ich verblüfft zu ihm aufschaute, waren seine winzigen stahlblauen Augen amüsiert auf mich gerichtet. Als er sah, dass ich an seinem Verstand zweifelte, sagte er kichernd, er sei Junggeselle und es lebten keine Verwandten von ihm mehr. In jungen Jahren habe er meine Eltern gut gekannt und freue sich daher, in ihrem Sohn einen vielversprechenden Rechtsanwalt und Notar zu erkennen, der es verdient habe, eines Tages sein nicht unbeträchtliches Vermögen zu übernehmen.

Ich wusste nicht, wie ich ihm danken sollte und vollendete die amtliche Form des Testamentes in dreifacher Ausführung. Er unterzeichnete es und erhielt ein Exemplar. Unsere Sekretärin unterschrieb als Zeuge. Hier ist das notarielle Dokument. Hier sind seine Entwürfe dazu!

Signore Urbano sagte mir zuletzt noch, es gäbe eine Menge an Urkunden und Verträgen zu prüfen, welche er allesamt in seinem Safe aufbewahre. Als sein Erbe müsse ich sie unbedingt anschauen. Erst wenn ich Einblick in seine Geschäfte genommen hätte, könne er wieder ruhig schlafen.

Daher bat er mich, bereits am Abend desselben Tages zu ihm nach Treviso zu fahren. Zu meiner Mutter freilich, das schärfte er mir ein, dürfe ich kein Sterbenswörtchen sagen, bevor nicht alles in trockenen Tüchern sei. Darauf müsse er bestehen, wenn es beim abgefassten Testament bleiben solle.

Ich versprach ihm das und telefonierte sofort mit meiner Mama, um ihr mitzuteilen, dass ich aus beruflichen Gründen erst spät in der Nacht nach Hause käme. Urbano verließ mich daraufhin in aufgeräumter Stimmung.

Am späten Nachmittag, als ich meine sonstigen Termine abgearbeitet hatte, fuhr ich mit der Bahn nach Treviso und nahm dort einen Leihwagen. Es war gar nicht leicht, seinen außerhalb liegenden Palazzo zu finden. Als ich endlich ankam, zogen schon die Schatten der Dämmerung übers Land. Ich klingelte an der Haustür. Man ließ mich ein.«

»Einen Augenblick bitte«, rief Volpe dazwischen, »war es etwa Signore Urbano persönlich?«

»Nein, nein, vermutlich seine Haushälterin; eine grässliche Alte mit verschrumpftem Gesicht. Sie machte nur einen Spalt breit auf. Ich nannte meinen Namen. Sie nickte und führte mich in eine wahrhaft fürstliche Halle und von dort ins Speisezimmer, wo Urbano und ein prächtiges Mahl auf mich warteten: Erst komme das Essen, dann die Arbeit, sagte er bestens gelaunt.

Danach führte er mich in seinen Arbeitsraum mit schwerem eichenen Schreibtisch und zwei Stühlen. Dort sah ich auch einen in die Wand eingemauerten Safe. Er öffnete ihn und holte Stöße von Dokumenten hervor, die ich mit ihm gemeinsam durcharbeiten musste. Erst gegen Mitternacht waren wir damit fertig. Er fügte rasch ein, es sei unangebracht, die alte Haushälterin noch einmal zu wecken und entließ mich durch die angrenzende Terrassentür ins Freie. Sie war die gesamte Zeit während unserer schweißtreibenden Arbeit offen gestanden.«

»War ein Vorhang oder etwas Ähnliches davor gezogen?«

»Ich weiß nicht recht. Doch ja, ein Vorhang. Ich glaube, er war zugezogen, und der Stoff bewegte sich immer mal wieder im Lufthauch; ja, nein, jetzt erinnere ich mich; es war so:

Bevor Urbano mich entließ, zog er eine Vorhanghälfte beiseite. Ich wollte gehen, konnte aber meinen Spazierstock nicht finden, dessen verdicktes oberes Ende ich ausgehöhlt und mit Blei gefüllt hatte, um eine Waffe gegen nächtliche Angreifer zu haben.

Urbano lachte nur, als er meine Verwirrung bemerkte und sagte, das verdammte Ding werde sich bei Tageslicht leicht finden lassen. Da ich von nun an sein häufiger Besucher sein werde, könne ich das Prachtstück beim nächsten Mal wieder an mich nehmen.

Nachdem er mich umarmt und sich herzlich von mir verabschiedet hatte, stieg ich in meinen bereit stehenden Fiat 500 und fuhr nach Treviso zurück. Der aufgegangene Mond verströmte angenehmes Licht.

Doch da überkam mich eine derart tödliche Müdigkeit, wohl auch noch vom Weingenuss gefördert, dass ich aufatmend im Carlton Hotel unterkroch, statt auf den nächsten Zug zu warten. Erst am nächsten Morgen fuhr ich mit dem IC über Mestre nach Padua zurück, nur, um alsbald zu erfahren, was bereits über mich in den Nachrichten verkündet wurde. Wäre ich mal nur gleich nach Venedig gekommen!«

»Haben Sie noch Fragen an Ihren neuesten Freund, Signore Tartini«, fragte Marcello süffisant grinsend.

»Nein, nicht, bevor ich einen Besuch in Padua gemacht habe, um dort ...«

»Hihihi«, kicherte Marcello, der die Methoden meines Kameraden kannte, »und Sie wollen, bevor Sie nach Treviso zum Schauplatz des Mordes reisen, die Mama des Signore Dolabella sprechen, hihihi! Nun, ich werde Ihnen einen Passierschein ausstellen müssen, denn das Haus, in dem sie wohnt, steht unter Bewachung, weil auch unsereins nicht schläft, denn vermutlich steckt sie mit dem Söhnchen unter einer Decke.«

Während Marcello etwas auf ein Blatt kritzelte, schlug sich Dolabella die Hände vors Gesicht und stöhnte: »Oh, meine arme Mutter! Womit hat sie das nur verdient?!«

»Jetzt jammert er auch noch«, stöhnte der Capitano und brüllte dann mit Stentorstimme:

»Carabinieri! Legt diesem des gemeinen Mordes beschuldigten Mann die Hände in Handschellen. Führt ihn ab und bringt ihn in das Gefängnis! Ich komme nach.«

Die beiden Polizisten trampelten herein, und Dolabella ließ sich die Arme widerstandslos fesseln. Während sie ihn hinausbrachten, warf er Volpe noch einen flehentlichen Blick zu. Doch dieser hatte sich über die Papiere gebeugt, welche der Verhaftete hatte liegen lassen und betrachtete sie mit Interesse. Kopfschüttelnd reichte er sie dann an Marcello weiter und sagte: »Das Zeug ist doch verdammt merkwürdig; hier! Sehen Sie es einmal selber an, und Sie werden sich wundern.«

Volpe reichte ihm die Papiere hinüber. Marcello stierte auf die Buchstabenflut. Schließlich stammelte er: »Eine Sauklaue hatte er, der Ermordete. An manchen Stellen ist seine Schrift unleserlich, dann wieder leichter zu entziffern.«

»Und was folgern Sie daraus?«, fragte Volpe.

»Keine Ahnung! Haben Sie eine Lösung im Angebot?«

»Gewiss doch«, sagte Volpe, »der, äh, Vermisste hat den Testamentsentwurf während der Bahnfahrt niedergeschrieben. Da wo die Schienen gut verlegt waren, ist die Schrift noch annehmbar. Dort aber, wo der Zug über Weichen rumpelte, wurden Wagen samt Insasse dermaßen durchgerüttelt, dass man größte Mühe hat, den Text zu verstehen.«

Marcello war aus seiner Lethargie erwacht und rief:

»Das ist wunderbar kombiniert! Aber was hat es zu bedeuten? Warum hat er den ganzen Schrieb nicht in aller Ruhe zu Hause am Schreibtisch erledigt, sondern während der Fahrt?«

»Nun, zum einen bestätigt es die Aussage des Verhafteten. Signore Urbano war gestern Morgen tatsächlich in Testamentsfragen bei Anwalt und Notar Dolabella zu Besuch. Wenn er den letzten Willen erst während der Fahrt aufsetzte, legt es mir den Schluss nahe, dass er dem gesamten Dokument keine allzu große Bedeutung beimaß. Bekanntlich lässt sich jedes beliebige Testament Tag für Tag neu aufsetzen.«

»Aber Urbano hat doch dadurch indirekt dafür gesorgt, dass er ermordet wurde, oder?«

»Und das glauben Sie wirklich? Ich habe mir jedenfalls noch keine abschließende Meinung gebildet.«

»Keine endgültige Meinung?! Selten in meinem Berufsleben habe ich einen klareren Fall als diesen da gehabt. Alles daran ist klar und eindeutig: Ein junger Mann erfährt, dass ein gut betuchter Greis ihn und seine Mama zu Universalerben macht. Als gelernter Rechtsverdreher weiß er naturgemäß ganz genau, dass ihn der alte Knacker jederzeit wieder enterben kann, falls er nicht schnellstens stirbt. Also macht er mit ihm unter einem billigen Vorwand einen Besuchstermin aus, wie zu erwarten am späten Abend, wo alles am Pennen ist, bleibt bei dem blöden Affen, bis die verschrumpfte Haushälterin in ihrer Schlafkammer verschwunden ist und dort genüsslich sägt.

Dann haut er dem Opa den umgedrehten Stock über den Schädel, ein bisschen zu kräftig, denn dabei spritzt dieser und jener Blutstropfen in die Gegend und hinterlässt einige rote Pünktchen an der Wand. Einem Mann wie mir bleiben sie nicht verborgen.

In seiner Hast bemerkt der Täter das nicht. Er lässt den Stock fallen, um ihn später zu vergessen und schleift sein Opfer an den Beinen durch die Halle, wo es ein paar Blutstropfen hinterlässt, und dann hinaus in den Garten. Dort hievt er den Toten auf den strohtrockenen Holzstoß und lässt das brennbare Material in Flammen aufgehen.

Vermutlich denkt er, mit der Beseitigung der Leiche alle Spuren verwischt zu haben, die zu ihm hätten führen können; mit anderen Worten: Wir haben hier einen simplen Mordfall vorliegen, verübt von einem blutigen Anfänger, sonst nichts. Zu alltäglich und zu primitiv, um groß Aufhebens davon zu machen.

Die erste Analyse der paar Knochenreste auf der Universität zu Padua, total verkohltes Zeug, hat übrigens erwiesen, dass es sich um menschliche Überbleibsel handelt.«

»Mein lieber Marcello«, sagte Volpe, »all das, was Sie da vorbringen, ist einleuchtend, zugegeben. Aber für meinen Geschmack ist es etwas zu einleuchtend. Versuchen wir uns doch einmal in die Gedankenwelt des angeblichen Mörders zu versetzen!

Würden Sie, caro Capitano, ausgerechnet den Tag, an dem Ihnen ein wildfremder Mann sein Vermögen vermacht hat, für seine Ermordung auserwählen? Müsste nicht sogar der Dorfwachtmeister von Marano auf das Verbindende, das Zusammenhängende beider Tatsachen schließen? Wäre das nicht der sicherste Weg, sich selber in Verdacht zu bringen?

Und dann noch die Geschichte mit dem Spazierstock, den unser affektierter Rechtsanwalt bei jeder Gelegenheit zu schlenkern pflegte! Was wären Sie, Capitano, doch für ein seltsamer Mörder, wenn Sie die Tatwaffe am Tatort vergäßen, von der Jedermann weiß, dass sie Ihnen gehört? Sie müssen doch zugeben, dass die Kombination all dieser Dinge Ihre Vermutung, Dolabella sei ein oder der Mörder, unwahrscheinlich macht.«

»Ich muss Ihnen da widersprechen«, sagte Marcello, »meine Erfahrung lehrt, dass Mörder sich scheuen, den Ort des Verbrechens unmittelbar nach der Tat wieder aufzusuchen. Ferner befindet sich ihr Gemüt im Schockzustand. So kommt es im Allgemeinen dazu, dass sie Fehler machen.

Im Besonderen hatte Dolabella allen Grund, den Tatort zu meiden. Deshalb hat er es auch später nicht mehr gewagt, sich den Stab zurückzuholen. Aus diesem Grund spricht alles für seine Schuld. Wenn Sie etwas für ihn Entlastendes vorbringen können, so tun Sie es, bevor er verurteilt wird. Ihm droht Lebenslang.«

»Wie wäre es mit dieser Version«, entgegnete Volpe: »In Gegenwart von Dolabella holt der Alte allerlei Dokumente aus der Blechkiste, um sie ihm zu zeigen. Während er das tut, ist der Vorhang der Terrassentür nicht ganz zugezogen. Ein Vagabund, der zufällig vorbei kommt, beobachtet beider Treiben mit Neugier und sieht schließlich den Rechtsanwalt in die Benzinkutsche steigen und davonbrettern.

Er wartet daraufhin, bis dieser sich weit genug entfernt hat, dringt ins Haus des Urbano ein, nimmt den Stab, den Dolabella in seiner Eile nicht hatte finden können, und schlägt dem Hausherrn den Schädel ein. Nachdem er die Leiche auf den Holzstoß gehievt und darunter Feuer gelegt hat, verschwindet er auf Nimmerwiedersehen.«

»Aber warum sollte er die Leiche denn verbrennen?«

»Und warum sollte sie Cornelio Dolabella verbrennen?«

»Naturgemäß, um den Mord zu vertuschen.«

»Gleiches könnte auch der Landstreicher im Sinn gehabt haben.«

»Aber warum ließ Ihr fiktiver Mörder die Papiere einfach liegen?«

»Weil ein Vagabund damit nichts anfangen kann. Wäre es Bargeld gewesen, hätte er es mitgehen lassen.«

Marcello schüttelte missbilligend den Kopf. Er war aber nicht mehr ganz so selbstsicher wie zuvor und knurrte:

»Lieber Signore Tartini, machen Sie mir Ihren Landstreicher dingfest, und ich will Ihnen glauben. Solange er nur in Ihrem Kopf existiert, ist und bleibt er für mich ein Hirngespinst. Und wenn Sie mich fragen: Der Grund dafür, dass die Wertpapiere des Ermordeten lückenlos, wie seine Haushälterin beteuert, vorhanden sind, beweist doch, dass Dolabella der Mörder ist. Indem er samt seiner Frau Mama alles erbt, hatte er nicht die geringste Veranlassung, sie mitgehen zu lassen. Warum stehlen, was man demnächst erbt?«

Diese Argumentation schien Volpe zuzusetzen. Er schwieg für einen Moment, um dann leise zu sagen:

»Auch ich sehe es so, dass die Tatsachen gegen den jungen Mann und seine Mutter sprechen. Dennoch will ich darauf hinweisen, dass es unsere Aufgabe ist, auch nach anderen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Wer von uns Recht behält, wird sich noch erweisen.

Wie ich hörte, Marcello, sind Sie im Begriff, sich nach Treviso an den Schauplatz des Verbrechens zu begeben. Reisende soll man nicht aufhalten. Ich darf Ihnen gute Fahrt und viel Erfolg wünschen. Ich verspreche, mich dort so bald wie möglich einzufinden, um zu sehen, wie Sie beim Feststellen der Indizien voran gekommen sind. Arrivederci, Amico!«

»Vielen Dank«, erwiderte Marcello, »und wie immer lege ich großen Wert darauf, dass Sie Ihren Adlerblick über den Schauplatz des Verbrechens schweifen lassen: Arrivederci, ciao!«

Kaum hatte er den Ansitz meines Freundes mit stampfenden Schritten verlassen, stürzte sich Volpe schon wie besessen in die Vorbereitungen für die Arbeit dieses Tages.

»Die Untersuchung beginnt in Padua«, sagte er.

»Warum nicht gleich in der Nähe von Treviso?«, wagte ich zu fragen, denn dort hatte sich ja die Untat ereignet.

»Obwohl das Drama zwei Handlungsstränge hat«, sagte Volpe gedehnt, »konzentriert sich Marcello ausschließlich auf die möglichen Ereignisse im und beim Haus des Urbano. Es fehlt ihm an Einfühlungsvermögen, Kombinationsgabe und Phantasie.

Meiner Meinung nach kann man nur dann Licht in die Angelegenheit bringen, wenn man beide Aspekte berücksichtigt. Dabei geht es in erster Linie um das Testament, das Signore Dolabella glücklich machen soll, der den Erblasser gar nicht kennt. Also gilt es zunächst zu begreifen, was Urbano dazu verleitet hat, ausgerechnet ihn als Universalerben einzusetzen.

Als einziger Anhaltspunkt ist die Aussage des Dolabella zu beachten, der von seiner Mutter irgendwann einmal gehört haben will, dass Urbano vor Zeiten an einer ehelichen Verbindung mit ihr interessiert war, aber abgewiesen wurde. Daher werde ich sie zuerst aufsuchen und befragen müssen. Bleibe hübsch daheim und hüte das Haus! Ich melde mich, wenn ich dich brauche.«

Lagunenmorde: Detektiv Volpe ermittelt: 5 Venedig Krimi-Bücher

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