Читать книгу Meister römischer Prosa - Michael Albrecht - Страница 33
Zur Problemstellung
ОглавлениеDarüber, dass Gaius Gracchus als Redner ebenso bedeutend war wie als Staatsmann,5 ist man sich seit der Antike einig, nicht aber über die Eigenart seines Redestils.
Theodor Mommsen6 findet in den „flammenden Worten“ der Reden „den leidenschaftlichen Ernst, die adliche Haltung und das tragische Verhängniss dieser hohen Natur im treuen Spiegelbild“ bewahrt. In den Mittelpunkt stellt er die „furchtbare Leidenschaft seines Gemüthes“, die Gracchus zum „ersten Redner“ machte, „den Rom jemals gehabt hat“.7 Auch die „nüchternen“ Partien der Reden werden unter dem Aspekt der Leidenschaft interpretiert: „So sehr er der Rede Meister war, bemeisterte nicht selten ihn selber der Zorn, so dass dem glänzenden Sprecher die Rede trübe oder stockend floss“.8 „Solche Züge sind das treue Abbild seines politischen Thuns und Leidens“.9
Während der Historiker Mommsen die Reden unmittelbar als Zeugnisse der Person versteht, hat andererseits die Philologie durch Erforschung der literarhistorischen Bedingtheit der Entstehung eine größere Distanz zum Objekt hergestellt. Eduard Norden ging von dem Grundsatz aus: „Der Stil war im Altertum nicht der Mensch selbst, sondern ein Gewand, das er nach Belieben wechseln konnte“.10 Er hat die Abhängigkeit des Gracchus von seinen asianischen Lehrern nachgewiesen11 und so den Weg zum literarhistorischen Verständnis gebahnt, dabei allerdings entgegen seiner eigenen Maxime doch auch wieder im Stil den Menschen suchend: „Dem leidenschaftlichen Temperament … dieses genialen Menschen musste die aufgeregte asianische Beredsamkeit ein willkommenes Mittel sein, seinen Gedanken den entsprechenden Ausdruck zu leihen.“12
Friedrich Leo13 erkennt jedoch den Gegensatz zwischen dem Temperament des Gracchus und der asianischen Manier; sie hat zwar eingewirkt, konnte dem Redner aber nicht viel anhaben. Leo übersieht nicht, dass die erhaltenen Fragmente die allgemeine Vorstellung vom leidenschaftlichen Pathos des Gaius nicht bestätigen; ohne die raffinierte Theorie Mommsens vom sprachlos machenden Zorn zu wiederholen, sieht er darin einen Zufall der Überlieferung.
Erst N. Häpke14 hat das Klischee vom leidenschaftlichen und demagogischen Redner zurückgewiesen und seinen sachlichen Argumentationsstil betont,15 ein Ansatz, den man weiter verfolgen sollte.
Worauf beruht das „emotionale“ Gracchus-Bild? Nach dem von den meisten Neueren übernommenen Urteil des Tacitus ist der Stil des Gracchus reicher als der des Cato.16 Plutarch verwendet ähnliche Epitheta und stellt in allen Einzelheiten einen Gegensatz zu der schlichteren und ruhigeren Diktion des Bruders Tiberius her:17 eine Gegenüberstellung, die eben durch ihre Konsequenz den Verdacht erregt, eine Konstruktion zu sein – wie so manches andere in den „vergleichenden“ Partien bei Plutarch.18 Er, der nur wenig Latein konnte,19 hatte von den Reden des Gracchus lediglich mittelbare Kenntnis;20 der ganze Absatz geht zudem so stark deduktiv von den gegensätzlichen Temperamenten der beiden Brüder aus, dass man die Einzelaussagen über Stilistisches nur mit Vorbehalt als historisches Zeugnis ansehen darf.
Ähnliches gilt von Tacitus, der nicht die Reden des Gracchus studiert hat, sondern eine Cicero-Stelle vereinfachend referiert. Die Äußerung ist im Dialogus Teil einer schematischen Übersicht über den technischen Fortschritt der römischen Redekunst und kann im Grunde nicht den Anspruch erheben, etwas Individuelles über C. Gracchus auszusagen.
Unklar bleibt also trotz Plutarch und Tacitus, wie stark und in welcher Weise die – unstreitig vorhandene – Leidenschaft des Gracchus in den Stil seiner Reden Eingang gefunden hat. Diese Frage zieht ein historisches Problem nach sich: Haben Plutarch und neuere Forscher21 etwa das Bild des Gracchus verzeichnet, indem sie zwar mit Recht auf das Emotionale hinwiesen, aber darüber andere Aspekte dieser facettenreichen Persönlichkeit vernachlässigen?
Der verbreiteten Auffassung von der stilistischen ubertas des C. Gracchus steht das Urteil Jules Marouzeaus gegenüber, der ihn als Schulbeispiel für die Dürftigkeit (egestas) des Altlateins anführt.22 Gracchus ist ihm freilich nicht Gracchus, sondern eine Station in einer historischen Entwicklung.
Letztlich wird also bei Plutarch wie bei Marouzeau das Einzelne deduktiv aus einer allgemeinen Konzeption abgeleitet. So gelangt jeder seiner Prämisse entsprechend zum entgegengesetzten Ergebnis. Der Text ist dabei kaum mehr als ein „prétexte“.
Zu einem differenzierteren Bild kann die Beachtung der verschiedenen Redearten und Stilebenen bei Gracchus führen, wie Leeman gezeigt hat.23
Im Folgenden soll ausgehend von Texten – unter anderem im Vergleich mit Cicero – versucht werden, zu einem individuellen Bild des Redners Gracchus zu gelangen. Die Eigenart unseres Textes erfordert ausnahmsweise methodisch einige Umwege. Dass er bisher für banaler gehalten wurde als er ist, liegt nicht zuletzt daran, dass man ihn isolierte. Es wird daher einiger Geduld bedürfen, die geistige Landschaft, der er angehört, sichtbar zu machen, ihn durch Heranziehung weiterer Texte von verschiedenen Seiten zu beleuchten und seine Worte zum Klingen zu bringen. Die folgenden Abschnitte behandeln der Reihe nach: Sprachhaltung, Erzählweise, Rationalität und Emotionalität.24