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2. Göttliche Initiative
ОглавлениеSo selbstverständlich der Bibel die Existenz Gottes ist, so häufig berichtet sie davon, dass Menschen Gott hören, sehen, erkennen, erfahren können. Doch weder die Möglichkeit noch das faktische Zustandekommen solcher Erkenntnis sind selbstverständlich. Sie stehen vielmehr unter Bedingungen, die von den biblischen Autoren immer wieder benannt und problematisiert werden. Deren wichtigste: Gott ist nur erkennbar, wenn und weil er sich zu erkennen gibt; er ist nur zu hören, wenn und weil er spricht. Ob, wann und wie er sich erfahren lässt, liegt allein in seinem Willen begründet.
Am deutlichsten wird diese Überzeugung in der Schilderung der Gotteserfahrungen selbst. Die beteiligten Menschen setzen das Geschehen nicht in Gang und bestimmen es nicht, sondern es begegnet und widerfährt ihnen. Als Wahrnehmende sind sie darauf angewiesen, dass sich ihnen etwas zeigt.
Einen ähnlich deutlichen Ausdruck findet das Wissen um die Notwendigkeit der göttlichen Initiative in Situationen, in denen Menschen die Erfahrbarkeit Gottes schmerzlich vermissen. In Notsituationen oder auch vor schwierigen Entscheidungen bitten sie Gott, sich zu erkennen zu geben. Sie hoffen, dass er sich ihnen als Retter zeigt, dass seine Weisheit ihnen Klarheit schenkt (Ps 67,2; Ps 70,2; Weish 9).
Es steht nicht im Widerspruch zu der genannten Überzeugung, wenn die Bibel andernorts suchenden Menschen Ratschläge gibt, wie sie zur Erkenntnis Gottes gelangen können. Vor allem werden das „Nachsinnen“ und das „Erinnern“ oder „Gedenken“ als Wege zu diesem Ziel genannt. Doch setzen auch sie Gottes vorgängige Initiative voraus: Die nachsinnende Betrachtung der Welt lässt die Weisheit Gottes nur erkennen, weil die Schöpfung in dieser Weisheit geordnet ist; die Erinnerung an die Geschichte des Volkes Israel ist nur deshalb eine Quelle von Hoffnung und Trost in aktuell erlittener Not, weil sie eine Geschichte erfolgter Rettungstaten ist; die Erinnerung an Jesu Leben, Tod und Auferweckung kann nur den Glauben stärken, weil in diesem Geschehen Gott selbst am Werk war (Sand/97: 10 – 12).
Dass die biblischen Autoren die Notwendigkeit der göttlichen Ermöglichung jeder menschlichen Gotteserkenntnis so nachdrücklich betonen, hat einen klar zu benennenden Grund: Sie geben damit ihrem Glauben Ausdruck, dass der von ihnen verkündete Gott kein „Machwerk von Menschenhand“ (Ps 115,4) ist. Ebenso wenig zweifeln sie an der faktischen Möglichkeit der Gotteserkenntnis. Dass Gott sich zu erkennen gegeben hat und sich auch in Gegenwart und Zukunft wieder zu erkennen gibt, steht für die Bibel fest: „Der, der es gesehen hat, hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr“ (Joh 19,35).