Читать книгу Einführung in die Theologie der Offenbarung - Michael Bongardt - Страница 34
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B. Systematische Entfaltung
Notwendigkeit des Denkens
Menschen können, zumindest auf Dauer, nicht nicht nachdenken. Was von außen begegnet und mit den Sinnen wahrgenommen wird, gibt zu denken. Inneres Erleben und Fühlen gibt zu denken. Nicht zuletzt: Frühere Gedanken, das Denken selbst gibt zu denken. Es ist unverzichtbar für Menschen, sich von all diesem Wahrgenommenen ein Bild zu machen, alles neu Begegnende in eine Beziehung zu setzen zu früher Widerfahrenem. Gelänge es nicht, zu einem solchen Gefüge zu gelangen, Menschen wären orientierungslos in der Mannigfaltigkeit dessen, was auf sie einströmt. Die Fähigkeit, sich denkend in der Welt zu orientieren, wird mit verschiedenen, keineswegs gleichbedeutenden Begriffen bezeichnet: Verstand, Vernunft, Ratio, Intellekt, Geist.
Vernunft des Denkens
Dass Menschen dem Denken nicht entkommen können, legt allerdings noch keineswegs fest, was und wie sie denken. Spätestens die Erfahrung, dass verschiedene Menschen über den gleichen Gegenstand sehr Unterschiedliches, gar Gegensätzliches denken, macht das Verstehen selbst zu einem Gegenstand des Nachdenkens. Um sich angesichts solcher Differenzen überhaupt noch verständigen zu können, sind Regeln zu finden, an die sich Gesprächspartner, die einander verstehen und zum rechten Verständnis einer Sache kommen wollen, zu halten haben. Die allgemeinste dieser Regeln darf auf breite Zustimmung hoffen: Man hat, wenn man verstanden werden will, „vernünftig“ zu reden. Die Vernunft als Fähigkeit, überhaupt zu denken, soll also zugleich Maßstab des rechten Denkens sein. Sogleich schließt sich die Frage an: Was ist denn „vernünftig“? Werden doch auch im Namen der Vernunft durchaus gegensätzliche Positionen vertreten.
Schon in der griechischen Antike wurde als Grundregel vernünftigen Nachdenkens der „Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch“ formuliert: „Dass nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung […] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann, das ist das sicherste unter allen Prinzipien“ (Aristoteles/372: C 3, 1005b 19f.). Dieser Satz, der zunächst nur auf Aussagen über Gegenstände bezogen ist, wird dahingehend ausgeweitet, dass man von jedem Denken Konsistenz verlangt: Wer den Anspruch erhebt, als vernünftig befunden zu werden, hat darauf zu achten, dass seine Aussagen, Thesen und Forderungen einander nicht widersprechen.
Wahrheit des Denkens
Doch kann ein in sich widerspruchsfreies Denken auch bereits Anspruch auf Wahrheit erheben? Ist es der Wirklichkeit, die es zu bedenken gilt, angemessen? Erlaubt es, sich in ihr zu orientieren? Diese Fragen lassen sich nicht ohne weiteres positiv beantworten. Denkbar ist schließlich ein „Glasperlenspiel“ (Hesse), ein schlüssiges Gedankengebäude, dem jeder Bezug zu den Gegenständen fehlt, die Menschen mit ihren Sinnen wahrnehmen. Denkbar ist aber auch, dass die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit selbst nicht den Anforderungen entspricht, die dem Denken auferlegt werden; dass sie vielmehr voll von Widersprüchen ist. Wie sich das Denken auf die Wirklichkeit außerhalb des Denkens bezieht; ob und wie sich das Denken an der Wirklichkeit messen und bewahrheiten lässt; ob das Denken die Wirklichkeit oder die Wirklichkeit das Denken prägt: all diese Fragen werden gestellt, seit Menschen über ihr Denken nachdenken – und die gegebenen Antworten weisen große Unterschiede, ja Gegensätze auf.
Grundlagen des Denkens
Die Problematik des Nachdenkens reicht noch weiter. Nachdenkend stellen Menschen Fragen. Sie finden Antworten, die zu neuen Fragen führen. Zur Ruhe kommt das Denken, zu ihrer gemeinsamen Grundlage kommen Streitende, wenn eine Antwort erreicht ist, die unmittelbar einleuchtet, die nach Ansicht aller Beteiligten keiner weiteren Rückfrage und Begründung bedarf. Solche „Evidenzen“ bilden die Grundlage allen Denkens, aller Kommunikation (Halbfass/403). Ohne sie fielen Menschen ins Bodenlose, wäre Orientierung unmöglich. Die Geschichte des Denkens aber zeigt, dass solche Evidenz verloren gehen, neue entstehen kann. Was über lange Zeit fraglos als richtig und wahr galt, wird durch neu gestellte Fragen, durch neue Erfahrungen erschüttert. Was, wenn es mit einem Mal nicht mehr als selbstverständlich gilt, dass es Gott gibt? Was, wenn die Überzeugung, dass Menschen das Gute erkennen können, dass sie es zu wollen und zu tun vermögen, fragwürdig wird? Die schon bekannten Fremdheiten des biblischen Denkens für heutiges Verstehen weisen auf solche Wechsel von Evidenzen hin.
Vielfalt des Denkens
Ein letzter irritierender Umstand sei benannt. Schaut man auf die zahllosen Versuche, die Welt zu verstehen und sich in ihr zu orientieren; auf die Werke großer Philosophen; auf die in verschiedenen Kulturen und Religionen geformten „Weltbilder“, stellt man nicht nur eine große Unterschiedlichkeit fest. Man wird auch konstatieren müssen, dass so unterschiedliche Ergebnisse langen Nachdenkens je für sich konsistent sein können; dass sie sich bewährt haben als Orientierung; dass sogar Menschen, denen die gleichen Grundlagen des Denkens einleuchten, daraus sehr verschiedene Schlüsse ziehen können. Die Pluralität menschlichen Denkens lässt sich nicht auf ein einziges wahres Verstehen reduzieren, indem alles andere Denken als falsch bewiesen wird. Stattdessen gilt es, sich zu dieser Vielfalt zu verhalten. Es muss in der je eigenen Perspektive ein Weg gesucht werden, fremden Wahrheitsansprüchen und Handlungsaufforderungen, die sich nicht mit den eigenen in Deckung bringen lassen, in Anerkennung und Kritik zu begegnen. Anders ist ein Zusammenleben der Menschen, deren Verschiedenheit sich nie wird beseitigen lassen, auf Dauer nicht möglich.
Aus der Unausweichlichkeit des Nachdenkens rettet auch der christliche Glaube nicht. Denn auch der Glaube mit seinen Aussagen und Aufforderungen gibt zu denken. Deshalb hat er mit all den Schwierigkeiten zu tun, die sich dem Denken entgegenstellen.
Gehalt
Der Offenbarungstheologie gibt zuerst und vor allem das biblische Zeugnis zu denken, dass Gott sich Menschen gezeigt und zu erkennen gegeben hat. Ihre erste und vornehmste Aufgabe besteht darin, die Wirklichkeit Gottes, von der die Bibel spricht und die Glaubende über die Jahrhunderte hin erfahren haben, zu bedenken. Diese göttliche Wirklichkeit aber, so viel wurde aus dem dargestellten biblischen Zeugnis bereits deutlich, existiert nicht in isolierter Unendlichkeit, sondern in enger Bezogenheit auf die Menschen und ihre Welt. So hat die Offenbarungstheologie auch über diese endlichen Wirklichkeiten nachzudenken, sie hat angesichts dieser das Zeugnis von dem Gott zu entfalten, der sich als Gott erweist, indem er rettet. Der wesentliche Inhalt des christlichen Glaubens und verschiedene Formen, ihn zu bedenken, bilden deshalb auch das Zentrum der folgenden Überlegungen (III.).
Gedanke
Die Schwierigkeiten allen menschlichen Denkens können aber von der Theologie um ihrer zentralen Sache willen nicht vernachlässigt werden. Von Anfang an umstritten war die Frage, auf welche Möglichkeiten und auf welche Grenzen die menschliche Vernunft stößt, wenn sie Gott zu bedenken sucht. Wie weit reichen ihre Fähigkeiten zur Gotteserkenntnis? Können Menschen konsistent von Gott sprechen? Brauchen sie nur die Kraft ihrer Vernunft oder bedürfen sie der Hilfe Gottes, um der Wirklichkeit Gottes ansichtig zu werden? Bestätigt und erhebt die Offenbarung das menschliche Denken oder deckt sie seine Nichtigkeit auf? Hat die Offenbarung über die Vernunft oder die Vernunft über die Offenbarung zu richten? Es empfiehlt sich, eingangs diese Fragen zu bedenken. Denn ihre jeweilige Beantwortung hat weit reichende Konsequenzen für die inhaltliche Entfaltung des Offenbarungszeugnisses. Außerdem lassen sie sich leicht an das biblische Zeugnis anknüpfen – wird doch die Frage nach den Möglichkeiten menschlicher Gotteserkenntnis auch von den biblischen Autoren immer wieder gestellt (I.).
Gestalt
Auch der zweite Problemkreis deckt sich mit den Aufgaben, vor die die biblischen Schriften das Nachdenken stellen. Was oben als Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Erkenntnis formuliert wurde, ist gleichbedeutend mit der Forderung, den Bezug des Denkens auf die bedachte Wirklichkeit zu klären. Wann kann ein Ereignis zu Recht als Offenbarung bezeichnet werden? Wie werden ein Wort, ein Geschehen, eine Weisung zu Offenbarungen Gottes? Wie lassen sie sich als solche erkennen? (II.).
Gegenwart
Die Konsistenzforderung, der sich ein Denken gegenüber sieht, das als vernünftig gelten will, bekommt in theologischer Perspektive eine besondere Prägung. Denn wenn es um die Entfaltung des grundlegenden Offenbarungszeugnisses geht, muss diese nicht nur in sich Stimmigkeit aufweisen. Sie hat darüber hinaus zu erweisen, dass und wie sie mit den ursprünglichen, sehr alten Zeugnissen und mit der Geschichte ihrer Auslegung in Einklang stehen. Eine Theologie, die diesen Nachweis verweigert, tritt aus der Tradition christlichen Glaubens hinaus. Es muss also deutlich gemacht werden, wie eine über die Zeiten reichende Kontinuität möglich und zu sichern ist. Notwendig ist sie nicht nur um der Konsistenz der Theologie willen. Unverzichtbar ist sie vor allem, wenn die einst geschehene Offenbarung Menschen späterer Zeiten erreichen können soll (IV.).
Gegenseitigkeit
Von Anfang an standen die, die an die Offenbarung Gottes in und durch Jesus von Nazareth glaubten, anderen gegenüber, die über das gleiche Geschehen ganz anders dachten. In diesen Unterschieden gründeten die frühen Konflikte zwischen der jüdischen Tradition und der jungen Kirche. In der Begegnung mit der griechisch-römischen Welt weitete sich die Notwendigkeit einer Verhältnisbestimmung des Christentums zu Glaubenden anderer Traditionen aus, in der heute alltäglichen Konfrontation mit fremden religiösen wie nicht-religiösen Weltverständnissen findet sie ihre Fortsetzung. So dürfen die Versuche, den christlichen Wahrheitsanspruch nach außen zu vertreten, nicht unerwähnt bleiben (V.).