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6 Rote Rosen

Die Küche war gewischt, die Pillen sortiert und sie hatte die ersten acht Zigaretten geraucht. Es war halb zwei, es regnete immer noch. Clara saß auf dem Sofa. Die Katzen Bünting und Onken, beide mindestens ein gefühltes halbes Jahrhundert alt, schwänzelten um sie herum, obwohl ihre Essenszeit erst gegen 16 Uhr war.

»Nichts gibts, macht euch vom Acker!«

Unwirsch verscheuchte Clara die pelzigen Ungeheuer, die ihre Haare früher als in den Jahren zuvor verloren und diese, so schien es ihr, im ganzen Haus strategisch verteilten, sodass auch ihr tägliches Geputze wenig half.

Noch eine halbe Stunde, bis »Rote Rosen« anfing. Sie wusste um die Banalität dieser Schmonzette, die, außer am Wochenende täglich lief, aber es machte sie zumindest einmal am Tag glücklich. Beim »Trödeltrupp«, »Frauentausch« und anderen Trash-Formaten der Privatsender fühlte sie sich wohl, denn sie merkte dann, dass es anderen noch schlechter ging als ihr und Einsamkeit überall herrschte. Sie sah gerne Menschen scheitern. Aber gegen »Rote Rosen« kam nichts an! Einmal am Tag raus aus ihrem Leben und eintauchen in das der anderen! Sie war schon fast auf Entzug, wenn die neuen Staffeln zu Ende waren und sie sich gezwungenermaßen die Wiederholungen anschauen musste.

Clara drückte die Zigarette aus, Nummer neun an diesem ersten April, und schaute in den Garten. Geld für einen Gärtner gab es nicht mehr, und sie musste notgedrungen versuchen, auch da Ordnung zu halten. Kein leichtes Unterfangen bei sechstausend ­Quadratmetern, auch wenn das meiste davon Rasen war. Vor dem Wohnzimmer­fenster lag der alte Bauerngarten. Rechts daneben der Rosengarten, die beiden kleinen Teiche, die alten Birken. Die Buchsbaumhecke war inzwischen fast einen Meter hoch und kaum noch in Form zu bringen. Sie musste dringend geschnitten werden, aber das hatte noch Zeit bis Anfang Mai. Clara wusste, dass sie sich selbst belog, sie hatte die Hecke seit Jahren nicht geschnitten. Verschieben wir es auf morgen! Scarlett O’Hara hatte durchaus recht gehabt! Fidel-didi.

Was kümmerte sie der Garten im April. Im Oktober war eh alles wieder verblüht und weder das alte, reetgedeckte Haus aus dem Ende des 18. Jahrhunderts noch der Garten sahen nach »Schöner Wohnen« oder »Landleben« aus. Zeitschriften, von denen noch vergilbte Ausgaben irgend­wo auf der großen alten Tenne lagen. Die quoll über von Einmachgläsern, Zeitschriften, Möbeln, vollgepackten Kartons. Clara schmiss nichts weg. Man konnte nie wissen. Da standen neben rostigen Fahrrädern mit platten Reifen auch alte Mistgabeln, Apfelkörbe aus dem letzten Jahrhundert, eingerollte Perserteppiche aus der Hamburger Zeit, Erbstücke von Johann, Toaster und Fernseher, die nicht mehr funktionierten. Und ihr Cabriolet Barron, ein Auto, das sie sich vor zwanzig Jahren gekauft hatte, um wenigstens etwas Lebenslust zu spüren. Sie war ein paar Mal mit dem offenen Wagen durch das Alte Land gefahren, einmal sogar nach Sylt, aber das Wetter war oft schlecht und schließlich hatte ihr das Geld für die Versicherung gefehlt. Der Wagen vermoderte und rostete vor sich hin; die Reifen waren seit Jahren platt. Irgendwann würde sie alles auf Ebay verramschen, es gab immer Leute, die Geld für altes Zeug ausgaben, das wusste sie. Nur nicht den Barron, das Symbol für bessere Zeiten, die lange vorbei waren und niemals wiederkommen würden.

Zum Glück gab es noch Johanns alten R4. Sie hasste diesen Wagen, aber er fuhr, und so konnte sie die Einkäufe mit dem Auto in Stade machen und war nicht auf den Bus oder die Bahn angewiesen.

Lautlos schlurfte Clara durch die Halle in die Küche und schaute kritisch auf die ein oder andere Schmutz­stelle. Sie putzte zwar täglich und zweimal im Monat kam Petra, die Putzfrau, aber richtig sauber war es nie und am Tag danach sah man schon nicht mehr viel davon. Ein altes Haus auf dem Land, Staub inklusive. Eigentlich hätte die kurzatmige Petra vor drei Tagen erscheinen sollen, aber sie war nicht gekommen und hatte dann auch noch die Unverfrorenheit, nicht abzusagen.

Kaffee half immer und irgendwo waren noch ein paar Kekse im Regal. Kochen konnte sie nicht, das hatte immer ihr Mann übernommen. Johann! Es war lange her, zu lange. Nicht lange nach ihrer Hochzeit war sie schon fast eine nudeldicke Deern, wie der Hamburger sagt. Rouladen, Pfannkuchen, Kartoffelstampf, Sahnetorten!

Sie lebten damals auf St. Pauli. Anfang der Achtzigerjahre, Rotlicht, gefährlich, aufregend. Anders. Mittendrin, zwischen all den Künstlern, Nutten und ihren Luden, Hafenarbeitern, Loosern und den Normalos. Johann hatte einen gut laufenden Nachtclub und sie arbeitete ehrenamtlich als Sozialarbeiterin in einem Verein, der sich um Junkies kümmerte. Ihn zu fragen, ob er treu war, das wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Es waren schließlich die Achtziger und das Leben war bunt, wild und lag noch vor ihr. Irgendwann hatte er diesen alten Hof gekauft, um ab und zu das Wochenende hier zu verbringen. Aber das war eine Ausrede, er wollte Geld waschen und sich mit seinen Lovern treffen. Natürlich wusste sie Bescheid. Ihr Glück, dass er es auf sie überschrieben hatte, um es im Fall einer Firmenpleite aus der Konkursmasse herauszuhalten.

Und dann musste sie für zehn Jahre in den Knast. Für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatte. Sie war eines Abends nach Hause in die Wohnung auf dem Kiez gekommen und hatte Johann und Reiner erschossen in der Küche gefunden, die Waffe lag noch auf dem Tisch. Sie verstand in diesem Moment nichts. Blackout. Schockiert starrte sie den Revolver an und nahm ihn an sich, wollte die Polizei rufen, doch die stand bereits vor der Tür. Wer sie gerufen hatte, wusste niemand. Alles ging zu schnell. Sie kam nicht hinterher, erlebte alles wie in Trance, den Prozess, die Zeugen, das Urteil. Als ob sie neben sich stehen würde, alles von außen beobachtete. Selbst eingreifen konnte sie nicht. Der Schock saß tief. Jahrelang begriff sie nichts von dem, was vor sich ging, starrte auf die Wand ihrer Zelle, las nichts, sah nichts und versuchte erst gar nicht, einen Sinn zu finden, den es nicht gab. Nach zehn Jahren wurde sie wegen guter Führung entlassen, aber da war alles zu spät und sie ein kaputter Mensch. Da gab es nichts zu kitten, die Seele ließ sich nicht mehr reparieren.

Niemand glaubte ihr, dass sie unschuldig war.

Sie hatte Hamburg verlassen und lebte seitdem hier auf dem Hof. Kontakt zu Malte Jensen von der Apfelplantage hatte sie nicht, zu dem »Bauern«, wie sie ihn nannte. Am Ende des Deichs gab es noch das ehemalige Gesindehaus, fünfhundert Meter entfernt, Johann hatte es nicht mitgekauft. Vor ein paar Wochen hatte sie zum ersten Mal den jungen Mann mit braunen Haaren gesehen, der mit einem offensichtlich verstörten Hund über den Deich lief. Er schien dort zu wohnen. Gehörte das nicht irgendeinem Anwalt aus Hamburg? Na, ihr sollte es egal sein, solange der Typ hier nicht auftauchte, um sich eine Tasse Zucker auszuleihen.

Bünting und Onken saßen auf dem Küchentisch und starrten sie vorwurfsvoll an. Der Kaffee war lauwarm. Wie lange hatte sie hier gestanden? Sie schaute auf die alte Wanduhr, es war zehn nach zwei. Verdammte Scheiße, immer diese Aussetzer in letzter Zeit, Filmriss! Vielleicht vertrugen sich die Pillen nicht miteinander, die sie jeden Tag nahm. Jetzt hatte sie auch noch den Anfang von »Rote Rosen« verpasst. Sie nahm die Tasse mit dem lauwarmen Kaffee, schlurfte lautlos auf ihren dicken Woll­socken zurück durch die alte Halle und erschrak sich fast zu Tode. Vor der alten verglasten Eingangstür standen zwei Männer mit einem Hund und eine pummelige Blondine in einem beigen Wollmantel im Regen und schauten sie an.

Asta

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