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13 Goldregen

Dr. Gabriele Römer beugte sich über ihr Mikroskop. Sehr interessant, dachte sie, das habe ich auch lange nicht mehr gesehen. Sie griff zum Telefon und rief das Labor in Hamburg an.

»Guten Morgen, Römer hier, Rechtsmedizin. Ich habe vorhin die Untersuchungsergebnisse zum Fall Harlor bekommen. Wann kann ich denn mit den Ergebnissen von der anderen Leiche rechnen?« Ungeduldig hörte sie zu. »Ja, es ist mir klar, dass die Leiche bereits seit Jahren plastikverpackt im Moor lag, ich habe sie ja selbst am Freitag obduziert. Aber ich benötige weitere toxikologische Ergebnisse. Details standen in den Unterlagen, die Ihnen zusammen mit den entnommenen Proben und der Genehmigung des Staatsanwalts zugeschickt worden sind. Und es muss schnell gehen.«

Sie runzelte die Stirn. »Der Fall hat höchste Priorität. Sie wissen doch inzwischen auch, um wen es sich bei dem Toten handelt, schließlich haben wir einen bestätigten Zahnstatus. So viel sind wir dem Opfer ja wohl schuldig, auch wenn Sie anscheinend zu jung sind, um wirklich zu verstehen, wer er war!«

Ohne sich zu verabschieden, legte sie auf. Gabriele hasste dieses kleinbürgerliche Spießerdenken, diesen Erbsenzählern ging es nur um Regeln und Vorgänge. Und von denen unter dreißig hatte Gabriele die Nase voll! Immer mussten sie sich absichern und waren nicht bereit, selbst Prioritäten zu setzen.

Ihr Herz pochte laut und schnell und ein kleiner Hitzeschwall durchfuhr sie. Immer ruhig bleiben, dachte sie. Gleich würde die Petersen kommen und vor der wollte sie sich nichts anmerken lassen. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor neun. Madame war immer zu spät, sie hatte also noch ein paar Minuten Zeit.

Erst passierte jahrelang nichts Außergewöhnliches in der Stadt und dann gleich zwei Leichen in der letzten Woche. Gabriele setzte sich an ihren Computer, legte die Hände vors Gesicht und ein Seufzer kam tief aus ihrer Brust. Die Erinnerung kehrte zurück. Es tat immer noch weh, auch jetzt nach all den Jahren.

Irgendwie hatte sie immer gehofft, dass er zurückkommen würde, obwohl das natürlich ein absurdes Wunschdenken war. Eigentlich hatte sie damals schon gewusst, dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Die Tränen schossen ihr in die Augen, verärgert wischte sie sie weg.

Draußen klingelte es, die Rechtsmedizin betrat niemand einfach so, Christine Breuer, die Team-Assistentin würde öffnen. Das musste Heiko sein, wie immer fünf Minuten zu früh. Aber das war ihr immer noch lieber, als jedes Mal eine Stunde auf Babette Petersen zu warten. Gott sei Dank hatte sie mit dieser arroganten Kuh nicht viel zu tun. Heiko war ihr da eindeutig lieber. Sie prüfte noch einmal, ob sie alle verräterischen Tränen weggewischt hatte, und wartete auf das Klopfen an ihrer Tür.

»Guten Morgen, Frau Römer, wie war das Wochenende? Ich hoffe besser als meins.« Heiko stellte einen dampfenden Becher mit heißer Schokolade und Sahne auf ihren Schreibtisch, Starbucks hatte auch in Stade gesiegt.

Sie versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihr nicht so richtig. »Ist das ein Bestechungsversuch, damit ich Ihnen alles verrate, bevor die Chefin auftaucht?«

Er schnitt eine Grimasse. »Die wird wie immer zu spät kommen. Sie wissen doch, dass ihre akademische Viertel­stunde gerne sechzig Minuten dauert, besonders ­montags.« Er zog seinen nassen Regenmantel aus und hängte ihn an die Garderobe.

Heiko mochte Gabriele Römer. Sie war rund, hatte die fünfzig weit überschritten, zu viel Make-up im Gesicht, und ihre Weltanschauungen waren gelinde gesagt oft absurd, aber wenn es um den Job ging, wusste sie genau, was sie tat. In der Inspektion wurde sie von den älteren Mitarbeitern gemieden. Es wurde von einer unglück­lichen Liebe gesprochen, die lange zurücklag. Vor seiner Zeit. Sie nippte an der heißen Schokolade und wies mit den rot manikürten Fingern auf einen Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Setzen Sie sich!«

In diesem Moment klingelte Heikos Handy. Gisela. Das konnte so wichtig nicht sein und er wollte Dr. Römer nicht unterbrechen, daher stellte er sein Telefon auf lautlos.

»Also, was haben Sie Schönes herausgefunden?«

»Als schön würde ich das nicht bezeichnen.« Sie zog die aufgemalten Augenbrauen hoch, und er kam sich vor wie ein Schüler, der die falsche Antwort gegeben hatte. Sie drückte auf eine Taste ihres Computers.

»Petra Harlor. Alter 54 Jahre, ledig, wohnhaft in Hemmoor, 1 Meter 64, 80 Kilo. Sie war starke Raucherin, die Lunge möchten Sie nicht sehen! Und sie mochte ihren Zahnarzt offensichtlich nicht. Ich werde wohl nie verstehen, dass Menschen aus Angst vor dem Zahnarzt ihre Zähne vergammeln lassen, aber das ist ein anderes Thema. Dazu kommen Übergewicht und Diabetes. Als sie in die Aushöhlung des Baumstumpfs gelegt worden ist, war sie noch nicht tot, die Druckstellen und zahlreichen Blutergüsse an ihrem Körper lassen darauf schließen. Auf der rechten Wange habe ich einen kleinen Schnitt gefunden, circa zwei Zentimeter groß. Sieht aus wie der Buchstabe V. Das kann aber Zufall sein, allerdings ist er vor ihrem Tod angebracht worden, denn es waren noch Blutreste auf der Haut. Sie muss starke Muskelkrämpfe gehabt haben, der Milchsäuregehalt der Muskulatur war extrem hoch.«

»Sie lebte noch? Wie furchtbar.« Heiko fragte sich, was Petra Harlor getan haben mochte, um ihren Mörder dazu zu bringen, sie lebendig in einen fast zwei Meter tiefen, offenen Baumstumpf zu stopfen.

»Sie hatte keine sichtbaren äußeren Verletzungen oder Knochenbrüche, nur die Schnittwunde im Gesicht. Sie lag seit ungefähr 72 Stunden dort, wurde also wahrscheinlich bereits am Sonntag hineingelegt. Ich habe toxikologische Untersuchungen veranlasst. Gift liegt nahe in solchen Fällen. Wir haben den Mageninhalt untersucht. Sie muss Brot oder Kuchen und ein Omelett vor ihrem Tod gegessen haben. Im Mund- und Rachenraum sowie auf der Zunge konnte ich außerdem Spuren von Kreide entdecken. Das kann aber nichts mit der Nahrungs­aufnahme zu tun haben. Ferner wurden auch Samenreste einer Pflanze gefunden. Diese habe ich ebenfalls untersucht und habe Spuren von Cytisin entdeckt.«

»Goldregen? Sind Sie sicher?« Gabriele Römer schaute Heiko überrascht an. »Ich hatte Leistungskurs Biologie. Pflanzen und ihre Wirkstoffe haben mich schon immer interessiert. Wenn ich nicht bei der Kripo gelandet wäre, hätte ich wahrscheinlich meine eigene Apotheke in der Stadt.«

Sie nickte: »Sie sagen es. Laburnum anagyroides, umgangssprachlich auch Goldregen genannt. Die Samen sind besonders giftig, es reicht eine kleine Menge, und wenn sie im Körper bleiben, führt das zum Tod. Das passiert allerdings selten, denn normalerweise kommt es nach oraler Einnahme schnell zum Erbrechen. Bei Petra Harlor war das nicht der Fall. Sie hatte eine tödliche Dosis der Samen im Magen, das Gift verursachte erst die Atemlähmung und heftige Krämpfe, später führte es zu einer vollkommenen Lähmung. So ähnlich wie bei Schierling. Was mich zum nächsten Punkt bringt. Wie haben eine hohe Konzentration an Conium-Alkaloiden gefunden, die auf eine weitere Vergiftung durch eben diese Pflanze schließen lässt.«

Heiko war fassungslos. »Sie ist also letztendlich in diesem Baumstumpf erstickt. Selbst wenn sie geschrien hätte, was aufgrund der Lähmung sämtlicher Muskeln unwahrscheinlich war, hätte sie keiner an diesem verlassenen Ort gehört. Ich habe das Wetter an dem Wochenende gecheckt. Es fing am Freitag mit einem starken Gewitter in den Abendstunden an und ansonsten Dauerregen wie in den letzten Wochen.«

Sein Handy vibrierte erneut, aber er ignorierte es wieder. Er würde gleich zurückrufen. »Wenn ich Sie richtig verstehe, hat Petra Harlor also ein Omelett mit Goldregen­samen vor ihrem Tod gegessen und wurde dann von ihrem Mörder lebend, aber weitgehend gelähmt in den Baumstumpf gelegt! Mit einem zufälligen Zuschauer war wegen des Gewitters wohl auch nicht zu rechnen, wobei in der Einöde dort sicher ohnehin nur selten jemand vorbeikommt. Die Frage ist nur: Warum hat man sie ermordet? Was hat sie getan? Harlor war eine alleinstehende Frau mittleren Alters, nicht vorbestraft. Sie arbeitete als Reinigungskraft, unter anderem auch auf dem Grundstück von Clara Jolcke, wo wir sie gefunden haben.«

Heiko schaute Gabriele Römer an. Sie wurde blass unter all der Schminke, die sie trug, und hätte beinahe ihre heiße Schokolade verschüttet. »Clara Jolcke? Sie lebt noch?« Sie schloss die Augen und ein großer Schmerz zuckte über ihr Gesicht. Heiko wurde verlegen, so kannte er die Rechtsmedizinerin nicht. »Sie sollten sich mal in ihrem Garten umschauen, vielleicht finden Sie dort Goldregen und Schierling, es würde mich nicht wundern.« Sie versuchte, die Fassung zu behalten, aber es gelang ihr nur schwer.

»Sie kennen Clara Jol …?« Heiko wurde von einem heftigen Klopfen an der Tür unterbrochen und im nächsten Augenblick war Christine Breuer schon im Büro. »Herr Degen, die Polizeiinspektion versucht, Sie dringend zu erreichen.«

»Was ist denn bloß so eilig?«

»Die Notaufnahme vom Elbe Klinikum hat im FK 1 angerufen. Frau Petersen hatte einen Unfall auf der B 73, sie wird gerade untersucht, sieht nicht gut aus. Sie ist nicht bei Bewusstsein. Das soll ich Ihnen ausrichten und Sie bitten, dorthin zu fahren.«

Mist, das hatte ihm gerade noch gefehlt. Es war nicht weit bis zum Krankenhaus. »Frau Römer, ich bin gleich wieder da und dann möchte ich den Rest der Geschichte hören. Aber meine Chefin hat jetzt Priorität. Das verstehen Sie bestimmt.« Und schon hatte er den Raum verlassen.

Gabriele Römer sah ihm nach und trank die inzwischen kalte Schokolade. Ob sie wusste, wer Clara Jolcke war? Was für eine Frage! Es gab keinen Menschen auf der Welt, den sie mehr hasste als diese Frau. Aber das würde sie ihm nicht verraten. Und wenn Heiko nachher in die Akten sehen und erfahren würde, wer die zweite Leiche war, würde es keine ruhige Woche für ihn oder irgendjemand anderen auf diesem Revier werden!

Asta

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