Читать книгу Asta - Michael Reh - Страница 8
Оглавление2 Zigaretten holen
Es war kalt an diesem grauen Spätnachmittag Ende Januar in Berlin. Jene Kälte, die so feucht ist, dass sie durch die Kleidung bis auf die Knochen dringt und sich daran festklammert wie ein Ertrinkender, unabdinglich.
Berlin, Hauptstadt! Heute politisches Zentrum des Landes, das man jahrelang in Ost und West geteilt hatte, nachdem es im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, verfeindet durch fremde Machthaber, getrennt durch die Mauer, entfremdet durch eine Ideologie, die inzwischen nicht mehr aktuell war. Berlin nach 1945, die Jahre der Teilung nach 1949. Lichtjahre entfernt von dem Leben des Mannes auf der Parkbank.
Für Tom war die DDR in seiner Kindheit ein fremdes Land. Dann kam die Wiedervereinigung. Und für einen Augenblick die Hoffnung, dass es so etwas wie Menschlichkeit gab, zumindest Gerechtigkeit oder Selbstbestimmung. Tom war im November 1989 ein Junge, gerade mal neun Jahre alt.
Er wuchs im kleinbürgerlichen La Salle, Illinois, als letzter männlicher Erbe einer untergehenden Industriellenfamilie auf. In einem Amerika, das noch als gelobtes Land galt, als Polizist des Weltfriedens und Sinnbild anderer geschickt vermarkteter Mythen, wie die vom Tellerwäscher zum Millionär. Bullshit! Die Bilder der jubelnden, scheinbar in die Freiheit entlassenen Ostberliner aber hatten sich in seine kindliche Seele gebrannt. Berlin, die Stadt der Freiheit.
Jetzt war er seit zwei Jahren in der Stadt seiner kindlichen Träume.
Berlin. Eine große alte Nutte, dreckig, freche Schnauze. Tom hatte Kunst studiert, war nach New York gegangen, um Maler, Bildhauer, Künstler zu werden. Sein Talent lag in der Skulptur. Marmor, Stein, Holz, ja selbst Zement wurden wie Wachs in seinen Händen und so formte, schlug und meißelte er aus totem Gestein die wunderbarsten Formen. Keine abstrakten, nein, Frauenkörper flossen aus seinen Händen, die toten Elementen Leben geben konnten. Seine Begabung war nicht vererbt, keiner wusste, woher dieses Kuckucksei der Familie gekommen war. Alle Vorfahren bis hin zum Urgroßvater William waren Handwerker und Industrielle! William, eigentlich Wilhelm Morten, hatte Mitte des 19. Jahrhunderts das heimische Dorf in der Nähe von Stade in Norddeutschland verlassen und war nach Illinois ausgewandert, wo er zunächst im Bergbau arbeitete. Zusammen mit seinem Sohn Edmund, der später die Firma übernahm, war es ihm aber gelungen, ein Imperium zur Gewinnung von Kohle und Zink aufzubauen.
Mit Anfang zwanzig floh Tom aus der amerikanischen Provinz nach Williamsburg in Brooklyn, dem neuen Mekka der Kunst. New York, das selbst ernannte Zentrum des Universums. Es war die einzige Stadt, die ihm jemals vermittelt hatte, dass sein Leben allein durch seine Anwesenheit dort einen Sinn machte. Für lange Jahre galt allein: Du bist New Yorker und nur deswegen schon etwas Besonderes. Allerdings war das Gefühl schnell verpufft, nachdem er hinter die Kulissen geschaut hatte. Doch zunächst kamen Erfolg, Geld, Frauen! Der Absturz war vorprogrammiert, die Welle brach. Der Markt verlangte nach neuen Ideen und Inputs, die Tom allerdings nach einer durchzechten Dekade nicht mehr liefern konnte. Er hatte New York durchschaut und die Finger nicht mehr in der universellen Steckdose der Kreativität. Wie viele Künstler vor ihm machte auch er den fatalen Fehler, nicht die Kreativität in sich zu finden, sondern Inspiration in der Außenwelt zu suchen. Wohin also? In das Epizentrum der angeblichen Kreativität, in die falsche Hoffnung aller Instagrammer der Meme-Generation! Ab ins coole Berlin. Es reichte, da zu sein.
Berlin. Wieder dieser Hunger, hier die Energie zu finden, die seine Batterie neu aufladen konnte. Aber Berlin war nicht New York und würde es nie sein. Berlin war nur noch Kommerz, denn die Künstler waren längst geflohen, wohin, wusste niemand so recht. Wo war es nun, das Berlin des neuen Millenniums, das sich in seinen Kopf geschlichen hatte, jene Vorstellung von einer Stadt, genährt von seiner Jugend, Träumerei und Dummheit?
Tom saß auf der feuchten Holzbank im Kleistpark, im Westen, wo er sich immer so fühlte, als würde er etwas verpassen. Ab und zu fuhr er »rüber« in den Ostteil der Stadt. Er kam immer mit leeren Händen und kaltem Kopf zurück, was nicht daran lag, dass er das Fahrrad nahm. In Kreuzberg, Friedrichshain und Neukölln waren alle hip und cool, dort vermischten neue Liedermacher und Rapper ihre Erfahrungen um und durch Berlin zu einem massenkompatiblen Brei, egal ob auf Instagram, bei Snapchat, in Podcasts.
Tom fielen die Augen auf der Parkbank zu. Der Novemberblues hatte ihn vor zwei Monaten erwischt und seither nicht wieder verlassen. Berlin im Winter, eine kalte, deprimierende Angelegenheit. Tom wusste, dass er an einem Punkt angelangt war, der drastische Maßnahmen forderte.
Er horchte in sich hinein, während die kalte, feuchte Januarluft durch seine Jeansjacke drang, aber er hörte nichts. Gar nichts. Ausgelaugt. Verbrannte Erde.
Es antwortete keiner mehr und er war auch nicht Michael Douglas, der in so einem Moment in dem Film »Falling down« die Knarre nahm und Amok lief. Der deutsche Titel des Films fiel ihm ein: »Ein ganz normaler Tag«. Ja, das war es: Ein ganz normaler Tag im Januar in Berlin, an dem er herausfand, dass sein Leben so nicht mehr weiterzuleben war. Er konnte sich nicht mehr belügen. Er musste raus.
Zigaretten holen gehen. Ein Satz seiner Kindheit, zu einer Zeit, in der Männer auf diese Art und Weise durchaus noch verschwinden konnten. In einer Zeit, bevor das Internet, Handys und Kreditkarten, das digitale Zeitalter, das menschliche Verhalten dauerhaft verändert hatten. Man konnte nicht verschwinden, da man immer digitale Spuren zurückließ.
Er schaute auf sein Handy. Es war 17:30 Uhr. Der Regen war stärker geworden. Er hatte es kaum bemerkt. Tom stand auf und nahm sich vor, nie wieder im Januarregen auf der Bank im Kleistpark zu sitzen.