Читать книгу Asta - Michael Reh - Страница 26

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20 Astas Bank

Heiko schaute auf sein Handy. Es war erst halb sechs, später Nachmittag, aber die Tage waren noch kurz und um sieben würde es dunkel sein. Gott sei Dank hatte er einen Pullover mitgenommen, es wurde bereits kühler.

Er stand in Malte Jensens Apfelplantage und konnte das ehemalige Gesindehaus schon sehen, es war nur einen kurzen Fußweg vom alten Hof der Jolcke entfernt. Heiko sog die Schönheit der Landschaft, die ihn umgab, in sich auf. Die Sonne stand tief am Himmel, aber auf ein paar Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Kurzentschlossen ging er nach links und sprang über den niedrigen Zaun, der den Deich von der Plantage trennte. Einen Moment später war er oben angelangt. Zwanzig Meter entfernt stand eine alte, vom Regen verwitterte, seltsam geschwungene Holzbank. Unter ihm floss die Oste. Der Fluss war hier fast dreißig Meter breit, und die Flut drückte das Wasser hoch ans Ufer, das von Schilf umgeben war. Von hier oben hatte er auch einen guten Blick über die Apfelplantage mit fast dreißigtausend Bäumen, wie ihm Malte Jensen stolz erzählt hatte. Er sah das alte Gehöft von Clara Jolcke mit dem Nebenhaus, in dem ihre Schwester Luisa lebte, und das Gesindehaus, das Tom gemietet hatte.

Fast zwei Stunden hatte er jetzt auf dem Anwesen verbracht. Malte hatte ihm seinen Hof gezeigt, die Scheune, seine beiden Pferde und die neue Lagerhalle, die riesig wirkte neben dem Haus, das der ehemalige Besitzer des Gutshofs in den frühen Achtzigerjahren für seine Frau gebaut hatte. Die war es leid gewesen, in dem alten Gutshaus ihrer Ahnen zu leben, und war besser mit Fußboden­heizung, Rollläden und einer Einbauküche zurechtgekommen. Malte baute das gesamte Haus allerdings nochmals um, als er den Hof übernahm. Die Lagerhalle war 1200 Quadratmeter groß und zehn Meter hoch, bot genug Platz für die Ernte und war außerdem mit einer besonders großen Stickstoffkammer ausgestattet, die die Äpfel bis ins nächste Jahr frisch hielt. Malte lebte allein, seine Frau hatte ihn verlassen. Er fühlte sich zu Männern hingezogen und wollte nicht weiter eine Lüge leben. Lieber allein als gemeinsam einsam, hatte er gesagt und Heiko angesehen. Beide hatten gewusst, was er meinte.

Heiko hatte sich verabschiedet und war zum Nebenhaus des alten Hofs gegangen, um Luisa von Bassen aufzusuchen. Sie saß noch im Garten, ein Buch im Schoß, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen. Sie war eingeschlafen. Heiko betrachtete sie kurz und entschloss sich, sie nicht zu wecken. Er würde sie in den nächsten Tagen befragen. Und konnte so noch ein wenig Zeit am Deich verbringen.

Die Apfelplantage am Fluss war etwas Besonderes, eine magische beruhigende Stimmung ging von ihr aus. Die Zeit war hier stehen geblieben, nichts außer Erde, Bäumen, Äpfeln und Ruhe! Ein Hase sprang durch die Baumreihen. Heiko ging zu der alten verwitterten Bank, setzte sich und schloss die Augen, atmete die Stille ein und vergaß für einen Moment, dass er hier war, um zwei Mordfälle aufzuklären.

»Sie können wohl nicht genug von mir oder meinem Anwesen bekommen! Gibt es keine Deiche in Stade? Was schnüffeln Sie denn hier herum?«

Heiko schreckte zusammen, er hatte Clara Jolcke nicht kommen hören. Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und schaute ihn kalt an. Sie trug alte Holzpantinen, eine dicke Strickjacke, ausgebeulte Leggings, ihre Haare standen wirr ab. Eine verrückte alte Schachtel mit sehr wachen Augen, dachte er. Er ließ sich seine Überraschung nicht anmerken. Wie hatte sie es geschafft, dass er sie nicht bemerkt hatte? Oder war er kurz eingeschlafen?

»Und wie sitzt es sich so auf meiner Bank? Haben Sie dafür auch eine Erlaubnis oder einen Durchsuchungs­befehl?«

Heiko ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Warum wollen Sie das wissen? Der Deich ist öffentliches Gelände und Ihr Name steht nicht auf der Bank. Also alles völlig legal. Und warum sind Sie hier? Verfolgen Sie mich?«

Sie rollte mit den Augen und machte eine scheuchende Handbewegung, die ihm bedeutete, dass er zur Seite rücken sollte. »Ich komme oft am Abend hierher, wenn es nicht regnet.« Sie setzte sich an die äußere Ecke der Bank und schaute auf die Baumreihen. Die ersten Blätter waren an den Bäumen, es sah aus, als hätte jemand einen zarten grünen Flaum auf die Äste gelegt.

»Sie haben Luisa getroffen.« Sie hob abwehrend die Hand. »Machen Sie mir nichts vor und belügen Sie mich niemals, ich bin zu alt und habe zu viel Mist erlebt in meinem Leben. Für Lügen und Tricks habe ich keine Zeit mehr, die ist eh bald für mich abgelaufen. Ich bin krank, ausgelaugt, habe zehn Jahre unschuldig und unfreiwillig im Knast gesessen. Ich sage es Ihnen hier und heute ein einziges Mal. Ich habe meinen Mann und Reiner nicht umgebracht. Ich habe auch Petra und Cordes nicht umgebracht, wie könnte ich und warum? Haben sie mich genervt? Ja! Haben sie mich betrogen? Ja! Bin ich eine einsame alte Spinnerin? Höchstwahrscheinlich! Aber ich bin unschuldig. Auch wenn ich alle kannte, auch wenn die Spuren zu mir führen. Ich bin es leid, mich zu verteidigen. Ich bin es leid, als Mörderin gesehen zu werden, ­gebrandmarkt, ausgestoßen. Aber ich kann es nicht ändern, wie ich heute Morgen bei der Vernehmung bereits gesagt habe. Und ich werde mich nicht mehr ändern, ich kann es gar nicht. Ich will es auch nicht!«

Sie drehte sich zu ihm und sah ihn klar und entschlossen an: »Ich habe diese Menschen nicht ermordet! Suchen Sie hier nicht weiter. Lassen Sie mich und meine Schwester in Ruhe. Sie sitzt seit zwanzig Jahren im Rollstuhl. Wir haben genug durchgemacht. Sie sind ein schlaues Bürschchen, und ich hoffe nur, Sie sind clever genug, um diese Fälle aufzuklären. Aber begeben Sie sich nicht auf den Holzweg. Sie haben hier weder was zu suchen noch zu finden. Mein Leben geht Sie einen Dreck an und beschuldigen Sie mich nicht, nur um eine schnelle Lösung präsentieren zu können.«

»Ich beschuldige Sie nicht, ich mache meinen Job!«

Clara Jolcke erhob sich wortlos und wollte gehen. Heiko stand auf und verstellte ihr den Weg. Sie ging ihm knapp bis zur Brust, eine kleine alte Frau, die seinem Blick nicht auswich.

»Was hat es mit dem Buchstaben auf sich?«

Sie schaute ihn verständnislos an. Er setzte alles auf eine Karte. »Der Buchstabe auf der Wange Ihres Mannes?«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Sie bewegte sich keinen Millimeter und sah aus wie eine Raubkatze kurz vor dem Sprung.

»Wir haben auf der Wange Ihres toten Mannes einen Buchstaben gefunden, der ihm eingeritzt worden ist. Sie waren doch am Tatort, ist Ihnen das nicht aufgefallen? Haben Sie das nicht gesehen?«

Sie wurde blass. »Ich weiß nichts von irgendeinem Buchstaben, was soll das, was ist das für eine blöde Frage, wollen Sie mich verarschen?« Sie versuchte, an ihm vorbeizugehen, aber Heiko wich nicht von der Stelle.

»Wenn Sie es nicht waren, wer hat es dann getan? Wer hat ihn umgebracht und einen Buchstaben in sein Gesicht eingeritzt, ein Zeichen hinterlassen? Was glauben Sie?«

Wütend zuckte sie mit den Schultern. »Wenn ich das wüsste, hätte ich nicht zehn Jahre umsonst abgesessen. Das habe ich ja nun schon oft genug zu Protokoll gegeben. Ich bin nicht hier, um Ihren Job zu machen. Ich war es jedenfalls nicht, so Gott mein Zeuge ist. Falls es so etwas wie einen Gott geben sollte, was ich stark bezweifle. Egal, ob Jesus, Jahwe, Allah oder eine höhere Macht. Und wenn es sie gibt, dann ist sie meschugge. Rutschen Sie mir den Buckel runter mit Ihren Zeichen, spekulieren sie gefälligst woanders herum und lassen Sie mich in Ruhe. Und jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg.«

»Wir haben auch bei Christian Cordes und Petra Harlor ähnliche Zeichen auf den Gesichtern gefunden. Die Fälle sind eindeutig miteinander verbunden. So viel steht fest.«

Mit einer Kraft, die er ihr nicht zugetraut hätte, drückte sie seinen Arm zur Seite, lief an ihm vorbei. Sie drehte sich noch einmal kurz um.

»Ein letztes Mal, ich habe nichts damit zu tun. Ich habe Johann und seinen gottverdammten Freund nicht umgebracht und auch niemals irgendjemandem irgendwas ins Gesicht geritzt. Was ging mich dieser tumbe Kommissar an? Der hat nur stur seinen Job gemacht und mich am Tatort verhaftet, das hätte ich an seiner Stelle auch getan. Und nennen Sie mir einen guten Grund, nur einen einzigen, warum ich Petra in einen Baumstumpf stecken sollte, das kann ich rein körperlich gar nicht. Ich bin eine alte Frau, hatte einen Schlaganfall und leide an Diabetes, falls Ihnen das entgangen sein sollte.«

»Vielleicht hatten Sie Hilfe?«

Sie schnaubte verächtlich: »Hilfe? Sind Sie jetzt völlig durchgedreht? Wer soll mir denn geholfen haben? ­Vielleicht mein netter Nachbar? Oder ein geheimer Liebhaber?« Sie bellte ihn fast an, es schien, als fletschte sie ihr Gebiss, die Fäuste geballt. »Ach nein. Es war meine Schwester, wie dumm von mir, das nicht gleich zu sagen. Die kommt ja überall so wunderbar mit ihrem Rollstuhl hin.« Ihr Blick war hart und eisig, alle Mauern waren hoch, die Zugbrücke zu ihrer Seele hochgezogen.

»Und mein Name steht auf dieser Bank, schauen Sie auf die Rückseite. Vergessen Sie nicht, vielleicht auch mal die Perspektive oder den Standpunkt zu wechseln, Herr Kommissar, dann entdecken Sie vielleicht mehr.« Ohne ein weiteres Wort stapfte sie in den alten Holzpantinen von dannen und drehte sich nicht mehr um. Es gab nichts weiter zu sagen.

Heiko schaute ihr nach. Eine erstaunliche Frau, der er kein Wort glaubte und die ihn dennoch irgendwie faszinierte. Er ging zur Rückseite der Bank. Auf einem mit Grünspan überzogenen Messingschild stand ein Wort: ASTA. Darunter fast unleserlich und verwittert: Gestiftet von Clara Jolcke.

Asta

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